Leseproben


Band I: Ilmgrund

Leseprobe 1

Geisenfeld, Ende April 1384
Die Sonne war untergegangen und nichts deutete auf das Drama hin, das sich in dieser Nacht ereignen sollte. Im Markt Geisenfeld kehrte Ruhe ein. Wieder hatten viele Bürger dem Possenspiel und Schabernack der Spielleute, die sich seit Wochen hier aufhielten, zugesehen. Auf der Wiese an der Ilm unterhalb des Benediktinerinnenklosters, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, spielten sie Nachmittags und Abends. Auch heute waren wieder manche Geisenfelder zum Gaudium des Publikums hervorgeholt und mit harmlosen Versen oder spitzen Bemerkungen aufgezogen worden.


Jongleure wirbelten Bälle in der Luft, so dass den Zuschauern schwindlig wurde. Bänkelsänger erzählten Moritaten aus alter Zeit und ein Spielmann sang herzzerreißende Balladen, wie es ein Minnesänger nicht besser vermocht hätte. Puppenspieler brachten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht dar, ein Zauberer ließ Eier verschwinden und holte stattdessen einen ausgewachsenen Pfau unter dem Rock einer Bürgerin hervor, was lautes Gelächter hervorrief. Ein Messerwerfer traf mit seinem Dolch jedes Ziel punktgenau, das ihm das Publikum nannte, war es auch noch so klein. Große Bewunderungsrufe waren sein Lohn.
Am Schluss der Vorstellung waren die Kinder der Künstler umhergegangen und hatten wie jeden Abend Geld gesammelt. Doch die Ausbeute war dieses Mal geringer als sonst gewesen.
Auf einen kalten Winter war ein regenarmes Frühjahr gefolgt und es stand zu befürchten, dass die ausgebrachten Saaten nicht mehr in ausreichendem Maße aufgingen. Nur kümmerlich sprossen die neuen Pflanzen. Auch der Hopfen, der hier schon seit Hunderten von Jahren angebaut wurde, wuchs nur sehr langsam. In den nächsten Wochen sollte er an die Wuchshilfen aufgebunden werden. Doch es war unsicher, ob dies heuer rechtzeitig möglich war.


Jeden Tag ging die Sonne über einem strahlend blauen Himmel auf, der keinen Regen brachte. So gerne sich die Menschen von den Gauklern zerstreuen lassen wollten, so sehr hielten sie ihr weniges Bares zusammen.
Auch die fahrenden Künstler machten sich nun ernsthafte Sorgen. Nicht nur, dass die Einnahmen karg waren, auch waren die Einwohner des Marktes nicht mehr so gastfreundlich wie nach den ersten Vorstellungen. Hatte man gar den Kindern anfangs sogar einige Leckereien zugesteckt, so kam dies kaum noch vor. Ja, manchmal, wenn die Spielleute durch die Geisenfelder Gassen gingen, konnte es passieren, dass sie beschimpft oder „versehentlich“ angerempelt wurden. Langsam mehrten sich die Stimmen im Markt, dass die Gaukler weiterziehen sollten. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man sogar, dass die Fremden mit bösen Mächten in Verbindung stünden, weil gar kein Regen fallen wollte.
Und die Spielleute selbst spürten die wachsende Ablehnung und begannen, Vorbereitungen für das Weiterziehen zu treffen. Sie packten ihre Habseligkeiten und beluden ihre beiden Wagen.

„Fahren wir schon weiter, Vater?“, fragte ein kleiner schwarzhaariger Junge seinen Vater, den Zauberer der Gruppe. Der nickte ernst. „Weißt Du, Alberto“ sagte er, „Wir Spielleute sind immer auf Reisen und bleiben, solange wir in der Gunst des Publikums und der Ortsoberen stehen. Jetzt ist es vorbei und wir suchen unser Glück woanders.
Wir ziehen in den nächsten südwärts gelegenen größeren Ort. Dann kannst Du dort auch alle Zauberkunststücke zeigen, die Du schon gelernt hast. Und so werden wir nach und nach weiter nach Süden reisen, bis wir das Land Deiner Vorfahren, Italien, erreichen.“ Die Augen des Knaben begannen zu leuchten. „Das Land meiner Vorfahren, dort, wo es immer warm ist?“ fragte er aufgeregt. „Werde ich das Meer sehen?“
„Ja, mein Sohn“, nickte sein Vater lächelnd und strich ihm liebevoll über den Haarschopf. „Du wirst das Meer sehen und weite Landschaften, alte Städte und große Olivenfelder. Nun rufe Deine Schwestern und sage ihnen, dass sie ihre Sachen packen sollen. Morgen in aller Frühe reisen wir ab.“ Der Junge lief los, sich auf neue Abenteuer freuend.
Der Zauberer Alwin seufzte leise, als er sich zu seiner Frau Lioba umdrehte. Lioba war eine schlanke schöne Frau mit hohen Wangenknochen, deren gelocktes schwarzes Haar ihr bis auf den Rücken fiel. Sie stieg gerade aus ihrem Wagen und betrachtete ihn mit ihren warmen braunen Augen sorgenvoll. „Alles wird gut“ beruhigte er sie. „Im nächsten Ort sind wir wieder willkommen“. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und tätschelte einen der beiden alten Gäule, die schon so lange die wackeligen Gespanne zogen. „Hört her, Freunde!“ rief er über das Lager der Spielleute, so dass ihn alle hören konnten. „Eilt Euch! Die Nacht wird hell, denn es ist Vollmond. Morgen noch vor Sonnenaufgang brechen wir auf!“


In derselben Nacht brannte die Klosterkirche. Am Morgen waren die Gaukler verschwunden und es begann zu regnen.


Leseprobe 2:

24. Juni 1390, Benediktinerinnenkloster Geisenfeld
Der Medicus, der im Markt Geisenfeld und im Kloster die Kranken behandelte, hatte nach dem Mittagsmahl den Raum aufgesucht, in dem er seine „Studien“ abhielt. Kaum war er in dem Zimmer verschwunden, so kündete lautes Schnarchen davon, dass er seine Berauschtheit ausschlief.


„Wir haben die Arbeit während des ganzen Tages und Du zehrst von den Heilerfolgen, die wir erzielen“, murmelte Magdalena verbittert. Als Angehörige des Ordens durfte sie nicht einmal zugeben, dass sie die Kranken und Verletzten behandelte, sondern war von der Obrigkeit nur als Helferin des Medicus geduldet. Dabei verstand dieser Säufer nicht einmal mehr die Grundlagen der Kräuterkunde, sondern ließ sich von ihr während der Behandlungen alles erklären. Im Markt und bei den Oberen aber galt er als der verständige Arzt, auch wenn es das einfache Volk besser wusste. Magdalena sah erschöpft auf ihren Medikamententisch, an dem sie saß und auf dem sich die verschiedensten Heilkräuter, Tinkturen und Salben zusammen mit Wundverbänden und verschiedenen Operationsbestecken befanden. Im Laufe der Zeit kostete sie dieses Komödienspiel immer mehr Kräfte.


Als Schwester Anna meldete, dass einer der Bauern, die für das Kloster arbeiteten, mit einem schwer verletzten Pilger an der Pforte wartete, schaute sie müde auf. „Ich komme gleich. Lass ihn in die Krankenstube bringen. Und sieh nach, ob der Medicus noch schläft.“ Sie seufzte. In letzter Zeit waren Strauchdiebe und Räuber wieder häufiger zugange gewesen. Doch war es ungewöhnlich, dass auch Pilger angegriffen wurden. Aber schließlich waren in den zurückliegenden Jahren häufiger Missernten und in der Folge Hungersnöte aufgetreten. Die Bauern klagten. Dies galt es ernst zu nehmen, denn das Kloster lebte zu einem Gutteil von den Abgaben, die sie leisteten. Zwar waren die Schwestern bemüht, für die Hungernden zu sorgen. Vor allem Brot und Gemüse wurde an die Bedürftigen ausgegeben. „Unser täglich Brot gib uns heute“ wurde im Vaterunser gebetet und jeder, ob Hungernder oder sorgende Ordensschwester, wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn das Brot fehlte. Sogar Lebkuchen, das Gebäck, das eigentlich zu Weihnachten gehörte, war in Notzeiten von den Nonnen in der Konventsküche mit Gewürzen versetzt und an die Hungernden abgegeben worden.
Zu Aufruhr in Folge von Hungersnöten war es glücklicherweise noch nicht gekommen. Die Abtei selbst war außerdem von einer dicken Ringmauer umgeben. Nur der Klostervorhof mit der Pfarrkirche, den Kapellen der Schutzheiligen St. Achatz und St. Katharina sowie den Stallungen, dem Krankentrakt und dem Gästehaus war Außenstehenden zugänglich. Im Notfall konnte die Pforte mit ihren schweren Toren verschlossen werden.
Ein weiteres zweiflügeliges Tor führte zum Klosterinnenhof, dem abgeschlossenen Bereich, der auch clausura genannt wurde. Dieses Tor war für gewöhnlich abgeschlossen. Nur Konventsangehörige und mit seltener Ausnahmegenehmigung der Äbtissin auch Gäste hatten Zutritt. Eindringlinge dagegen hatten es überaus schwer, hineinzukommen. Der Markt Geisenfeld aber mit seinen überwiegend aus Holz gebauten Häusern bot sich einem Angreifer nahezu schutzlos dar. Nun, die Marktmauer, die schon so lange geplant war und deren Bau in nicht allzu ferner Zukunft beginnen sollte, würde den Ort für lange Zeit schützen.


Magdalena erhob sich und betrat das Krankenzimmer, in dem die Neuankömmlinge zuerst behandelt wurden. Auf dem Boden lag ein schmutziges Messer neben einem seltsam geformten, grünen Gegenstand. Ein Wanderstab lehnte an der Wand. Daran hing neben einer Kürbisflasche eine zerbrochene Jakobsmuschel. Schwester Anna stand bei dem Patienten und wiegte zweifelnd ihren Kopf. „Es steht nicht gut um ihn“, sagte sie. „Er hat zahlreiche Torturen erlitten, wie man sehen kann. Und wir wissen noch nicht, ob er auch innere Verletzungen hat. Wer weiß, ob er die nächsten Tage überlebt. Ach ja, der Medicus schläft wie ein Neugeborenes.“ Sie kicherte.
Magdalena nickte. Sie hatte nichts anderes erwartet. Auf einem langgestreckten hölzernen Tisch sah sie einen bewusstlosen Mönch liegen, dessen Gesicht mit Blut aus einer klaffenden Kopfwunde bis zur Unkenntlichkeit verschmiert war. Seine Kutte war zerrissen und verdreckt. Der Atem des Mannes ging flach und schnell. Der linke Arm stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Sie trat näher, beugte sich über den Unbekannten und begann, zunächst vorsichtig seine Wunden an den Armen in Augenschein zu nehmen. Der rechte Kuttenärmel des Verletzten war am Ellenbogen abgetrennt. Tiefe Kratzwunden zeugten von einem Kampf. Die Nägel von zwei Fingern waren abgerissen. Sie wollte ihren Blick gerade dem anderen Arm zuwenden, als ihr etwas auffiel. Am kleinen Finger der rechten Hand hatte der Fremde eine auffällige rote Warze. Ihr Atem stockte; es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie kannte nur einen Menschen, der so ein Merkmal trug. Fieberhaft nahm sie ein Tuch, benetzte es mit Wasser und wusch vorsichtig das Gesicht des Mönchs.


Als sie das geronnene Blut aus dem Antlitz des Mannes entfernt hatte, starrte sie ihn ungläubig an. Schwester Anna fragte beunruhigt: „Was ist mit Dir, Schwester?“ Magdalena löste sich aus ihrer Erstarrung, legte ihre Hand auf die Stirn des Bewusstlosen und wandte sich dann an ihre Helferin. „Er bekommt Fieber. Bereite sofort Umschläge mit Weidenrinden zu. Eile, denn es gilt, keine Zeit zu verlieren!“ Die junge Schwester nickte und lief hinaus.
Magdalena drehte sich wieder zu dem Verletzten um. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Dann bemerkte sie unter der Kutte des Mannes ein Glitzern. Wie im Traum griff sie danach. Es war die Kette des Medaillons mit ihrem Bildnis, das sie ihm vor sieben Jahren geschenkt hatte. Als es in ihrer Hand lag, stiegen ihr vor Glück die Tränen in die Augen. Sie betrachtete wieder eingehend sein Gesicht. Er war kräftiger, stämmiger geworden. Die weichen Gesichtszüge von damals hatten sich verloren. Doch es bestand kein Zweifel, er war es.
„Du bist gekommen“, flüsterte sie, von der Erkenntnis überwältigt. Sie sank auf die Knie, hob ihre Hände zum Gebet und dankte Gott. Dann stand sie entschlossen auf. „Johannes, ich verliere Dich nicht noch einmal. Ich kämpfe um Dein Leben!“

Leseprobe 3:

10.August 1390, Kleiner Marktplatz, Geisenfeld
Unschlüssig stand Johannes auf dem kleinen Marktplatz. Der heutige Tag war wolkenverhangen und regnerisch gewesen. Obwohl der Regen aufgehört hatte, war der Himmel noch voller schwarzer Wolken. Schon früh war es dunkel geworden. Das Gebet der Vesper hatte der Mönch vor kurzem beendet. Bei Schwester Hedwigis hatte er sich mit der Begründung abgemeldet, noch einen kurzen Spaziergang machen zu wollen. Den verwunderten Blick der Pförtnerin spürte er förmlich in seinem Rücken, als er zum Kleinen Marktplatz ging. Sicher fragte sie sich, warum er bei dieser Dunkelheit noch unterwegs war. Und er? Er fragte sich, ob es richtig war, hierher zu kommen.
Heute morgen hatte er einen Zettel in seiner Unterkunft gefunden. Als er ihn auseinander faltete, musste er sich vor Überraschung auf sein Lager setzen.
Ich weiß, dass Ihr der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen wollt. Ihr seid auf der richtigen Spur. Doch wisst Ihr noch nicht alles. Wenn Ihr alle Hintergründe kennenlernen wollt, dann kommt am Abend des 10. August vor der Komplet in die abschüssige Gasse an der Nordseite des Kleinen Marktplatz. Geht bis zum Ende durch und haltet Euch dann Rechter Hand. Dort wird Euch alles offenbar werden.  Doch kommt alleine!“
Der Brief enthielt keine Anrede und die Unterschrift auf dem Zettel war nicht zu entziffern.


Jetzt stand Johannes im Schatten eines Hauses am Kleinen Marktplatz und spähte in die abschüssige Gasse. Neben seinem Messer mit dem heiligen Holz hatte er vorsichtshalber auch seine Schleuder und einen Beutel mit scharfkantigen Steinen mitgenommen. Im Beutel befand sich auch der Zettel mit der geheimnisvollen Botschaft.
Die Bürger von Geisenfeld hatten sich angesichts des unangenehmen Wetters schon in ihre Häuser zurückgezogen. Kaum jemand war unterwegs. Nur ab und zu glaubte Johannes eine einsame Gestalt zu sehen, die entlang des Markplatzes huschte und eilends in einer Seitenstraße verschwand. Hie und da brannte auf dem kleinen Marktplatz noch eine einsame Fackel und spendete fahles Licht. Wind war aufgekommen und pfiff durch die Straßen. In den Häusern, die die abschüssige Gasse säumten, brannten Lichter, in der Gasse selbst aber herrschte Dunkelheit. Nur ganz am Ende kämpfte eine beinahe niedergebrannte Fackel gegen den Wind an.


`Wenig einladend sieht es hier aus´ dachte der Mönch. `Da hinten ist eine Metzgerei und gleich daneben eine Gerberei´. Während Johannes langsam die Gasse entlang ging, drückte sich Alberto lautlos wie ein Schatten an den Hauswänden entlang. Wer nicht wusste, dass Johannes begleitet wurde, hätte den jungen Gaukler nur sehr schwer bemerkt.
Am Ende der Gasse angekommen, blickte Johannes gespannt um sich. Mittlerweile war es vollkommen dunkel geworden. Die Fackel, die vorhin zumindest schwach gebrannt hatte, glimmte nur noch.
Johannes zog den Zettel aus seinem Steinebeutel. Notwendig war es nicht, denn er kannte die Worte auswendig. „… haltet Euch dann Rechter Hand. Dort wird Euch alles offenbar werden“ Misstrauisch beobachtete er, ob irgendjemand in dieser Gasse war. Doch alles war still. Er konnte nichts außer seinem eigenen Atem und dem Pfeifen des Abendwindes hören. Nur ein leises, kaum wahrnehmbares Scharren verriet ihm, dass Alberto sich unmittelbar hinter ihm befand. Trotzdem konnte er ein Gefühl nicht ignorieren, das ihm sagte, dass sie nicht alleine waren.


Vor sich sah er eine Wand aus massiven Bohlen, die mehr als mannshoch war. In die Wand war ein verschlossenes Tor eingelassen. Die Gasse machte hier einen scharfen Knick nach rechts. Während zu seiner Linken ein hölzerner, offenkundig leerstehender Stadel war, an den sich eine niedrige strohgedeckte Häuserzeile anschloss, war zu seiner Rechten ein mit Ziegeln errichteter fensterloser massiver Bau. Soweit der Mönch erkennen konnte, wich danach die Bebauung zurück. Hier schien der Hof eines Lehnsnehmers zu sein. Doch konnte Johannes nur wenig erkennen. Die Gasse verlor sich nach wenigen Mannslängen in der Dunkelheit.
Plötzlich spürte er eine Hand auf seinem Arm. Vor Schreck hätte er beinahe aufgeschrien. Als er sich umwandte, sah er Alberto, der warnend seinen Zeigefinger vor die Lippen hob und ihm Schweigen gebot. „Wir werden beobachtet“ flüsterte der Knabe fast unhörbar. Johannes zwang sich, nicht umzusehen. „Wer? Wo?“ fragte er leise. Alberto schüttelte den Kopf „Schatten. Schatten, die uns beobachten. Sie wissen, wo wir sind.“ Der junge Mann bewegte kaum die Lippen.
In Johannes Nacken begann es zu kribbeln. Obwohl es empfindlich kühl geworden war, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Sein Herz klopfte heftig. Er hatte Angst. Warum ließ sich der geheimnisvolle Briefeschreiber nicht sehen? Da vernahm er von rechts ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Ein unterdrücktes Keuchen und ein Schleifen, als würde etwas über den Boden gezogen. Johannes räusperte sich leise. Gerade wollte er rufen, als Alberto warnend seinen Arm drückte.


Auf Zehenspitzen tastete sich Johannes an der Wand des fensterlosen Ziegelbaus entlang bis zur Mauerecke. Vorsichtig spähte er in den Hof, der sich rechts von ihnen auftat. Die Hofstelle war klein, aber solide errichtet. Gegenüber des Ziegelbaus war ein ordentlich gezimmerter Stadel. An der Stirnseite des Hofs befand sich ein kleines niedriges Holzhaus, das einen stabilen Eindruck machte. Das Dach war mit starken Schindeln gedeckt. Im Haus war es dunkel. Nichts ließ darauf schließen, dass jemand anwesend war. Nur eine Kerze, die in einem Glas neben dem windgeschützten Eingang zum Haus des Lehensnehmers stand, spendete einen schwachen Lichtschein, als wolle sie Besucher einladen.
Der Bau, an dessen Ecke Johannes stand, entpuppte sich als Lagerhaus für Strohballen. Die Ballen lagen säuberlich aufgeschichtet auf dem gestampften Boden. Johannes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wo war der geheimnisvolle Informant? Warum gab er sich nicht zu erkennen? Hatte er ebenso Angst vor der Rache des Kaufmanns?
Was war das? Ein scharrendes Geräusch ließ Johannes herumfahren. Fiepend lief eine Ratte aus dem Lagerhaus über den Hof auf die schmale Gasse und verschwand in der Dunkelheit.
Nur schwer gelang es dem Mönch, sich zu beruhigen. Seine Finger zitterten. Zum Glück war Alberto nicht weit. Er drehte sich zu seinem Begleiter um. Der Knabe war dicht hinter ihm. Prüfend ließ Johannes seinen Blick über die Hofstelle schweifen. Nichts. Langsam fiel die Spannung von ihm ab und löste sich in Enttäuschung auf. Er war hereingelegt worden. Jemand hatte sich mit ihm einen üblen Scherz erlaubt. Gerade wollte er wieder Kehrt machen, da schlüpfte Alberto an ihm vorbei und spähte in das Lagergebäude. Dann packte er den Mönch am Arm und deutete auf das Innere des Baues.
Johannes folgte seinem Blick. Hinter einigen Ballen, die vor der Masse der anderen aufgeschichteten lagen, konnte er etwas hervorragen sehen. Er kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Da lag ein Arm auf einem Ballen! Die dazugehörige Person schien sich hinter dem Stroh zu verstecken.


„Holla!“ rief Johannes leise. Keine Reaktion. Noch einmal. „Holla, wer im Namen Gottes versteckt sich hier?“ Stille antwortete ihm.
Lautlos und geduckt huschte Alberto die offene Seite des Gebäudes entlang und kauerte sich an der Ecke zum Haus des unbekannten Lehensnehmers nieder. Er beobachtete die Gestalt, die hinter dem Stroh war. Johannes registrierte mit Verblüffung, dass sich der Fremde nicht sich bewegt hatte, obwohl er doch den Knaben unmöglich übersehen konnte. Schlief er?
Er sah zu Alberto hinüber. Dieser wirkte nun aufgeregt und deutete auf den Unbekannten. Johannes verlor die Geduld. Er schlug alle Vorsicht in den Wind und ging langsam auf den seltsamen Fremden zu, der noch immer hinter den Strohballen kauerte.
„Holla?“ fragte er nochmals leise, als er sich näherte. Wieder keine Reaktion. Johannes musste um das aufgehäufte Stroh herumgehen, um den Unbekannten zu sehen. Dieser befand sich in knieender Haltung. Den nach vorne geneigten Kopf hatte der Unbekannte gegen die Strohballen gelehnt. Sein Gesicht war dem Boden zugewandt. Es sah aus, als sei der Mann vor Erschöpfung im Knien eingeschlafen. Er trug, soweit Johannes erkennen konnte, die Bekleidung eines Knechts, eine  rot gefärbte Weste, an der robuste Beinlinge aus schwerem dunklem Stoff befestigt waren. Die dunkelbraunen Lederschuhe machten einen abgenutzten Eindruck.
Johannes sah unschlüssig zu Alberto hinüber. Der Knabe schüttelte warnend den Kopf. Irgendetwas war hier mehr als seltsam. Johannes fasste einen Entschluss. Er huschte zu dem Fremden und kauerte sich neben ihn. Dann tippte er ihm an die Schulter. „Aufwachen!“ flüsterte er. Doch der mutmaßliche Knecht rührte sich nicht. Johannes gab ihm einen leichten Schubs. Langsam fiel der Mann zur Seite und blieb auf dem Rücken liegen. Sein auf dem Stroh gelegener Arm schlug längs ausgestreckt neben seinem Kopf auf.
Schlagartig wurde Johannes klar, dass der Mann tot war. Das weiße Leinenhemd, das der Mann unter seiner Weste trug, wies in Höhe des Herzens einen dunkelroten großen Fleck auf. Fassungslos starrte Johannes den Leichnam an. Der Fremde war erstochen worden. Er wollte gerade die Hand nach dem Toten ausstrecken, als er die warnende Stimme von Alberto hörte.
„Nicht!“ flüsterte der junge Gaukler hastig. „Nicht den Mann berühren! Geh weg von dem Toten! Schnell!“ Johannes schaute in die Richtung des Jungen, aber er konnte ihn nicht sehen. Alberto hatte sich in das Innere des Lagerhauses zurückgezogen. Warum?


Johannes´ Nackenhaare sträubten sich. Er spürte eine nahe Bedrohung! Instinktiv griff er nach seiner Schleuder, holte, so schnell er konnte, einen Stein aus seinem Beutel und legte ihn in die Lederschlaufe.
Da hörte er ein leises Lachen. Ruckartig sprang er auf und drehte sich um.
Im Torrahmen des Holzstadels gegenüber dem Lagergebäude lehnte Albrecht Diflam und grinste. „Mörder!“ sagte er, jede Silbe genüßlich betonend. „Bruder Johannes, Ihr seid ein Mörder! Ich habe genau gesehen, wie Ihr den armen Knecht erdolcht habt! Und dieses kleine Bürschchen, wer immer das auch sein mag, hat Euch geholfen! Dafür werdet Ihr beide gehenkt.“ Er hob die Hand und rief. „Ergreift die beiden Mö..!“
Ein trockenes Knacken unterbrach ihn. Aus der Dunkelheit des Lagergebäudes war ein Stein geflogen und hatte Diflam an der Stirn getroffen. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Kopf des Majordomus zurückgeworfen. Diflam taumelte und fiel rückwärts in den Holzstadel, wo er bewegungslos liegen blieb.
Plötzlich kam ein Knecht aus der dunklen Gasse gelaufen und richtete drohend sein Schwert auf Johannes. Gleichzeitig stürzte aus dem Lehnsnehmerhaus ein weiterer Knecht mit einer Armbrust. Er hob die Waffe und richtete sie auf den Mönch. Johannes warf sich herum. Ohne nachzudenken, spannte er die Schleuder und schoss auf den Armbrustschützen. Der Stein traf den Mann mit Wucht in der Mitte des Brustkorbs. Mit einem Schmerzenslaut ließ der Knecht die Armbrust fallen. Dabei löste sich die Sicherung der Waffe, der Bolzen schoss auf den zweiten Knecht zu und bohrte sich in seine Schulter. Klirrend schlug das Schwert auf dem Boden auf.
Für einen Augenblick schien alles stillzustehen. Johannes´ Verstand weigerte sich zu begreifen, was passiert war. Der Mann, der die Armbrust gehabt hatte, krümmte sich vor Schmerz. Der zweite Knecht starrte verwundert auf den Pfeil, der in seiner Schulter steckte.
Plötzlich kam ein dunkler kleiner Schatten aus dem Lagergebäude gehetzt, packte Johannes am Arm und zischte: „Flieh! Wir müssen fliehen!“ Dies riss den Mönch aus seiner Lähmung. So schnell er konnte, rannte er Alberto nach, der in der Dunkelheit der Gasse verschwand.
Hinter ihnen ertönten laute Schreie: „Mörder! Haltet Sie! Haltet die Mörder!“


                                                                            *

Band II:  Der Tod aus der Wolfsgrube

Leseprobe 1:


19. Januar 1391, zwischen dem Surenenpass und dem Tätschbachfall
„S´ischt Zeit, umzukehren, odr?“ Jakob Rüdt schaute seine beiden Kameraden erwartungsvoll an. Der eisige Wind hatte ihm beinahe die Worte von den Lippen gerissen. Die drei Jäger verhielten auf dem Weg, den sie von dem Dorf Attinghausen bis hierher zurückgelegt hatten. Alle drei schauten sich prüfend um, während sie ihre Mäntel enger um sich zogen. Links von ihnen erhob sich die massive Bergkette mit dem Krönten, dem Hinteren Schloss und den bizarren Spitzen des Großen und kleinen Spannorts, die wie zusammengelegte Finger aus der Bergkette nach oben ragten. Rechter Hand lagen die Spitzen von Blackenstock, Schlossstock und wie sie alle hießen, unter tiefem Schnee. Die Männer tätschelten ihre Hunde. Hoher Schnee auf dem Pass hatte ihnen das Fortkommen beschwerlich gemacht. Der eisige Wind heulte und ließ sie erschauern. Das Rauschen des Flusses unterhalb ihres Pfades tat ein Übriges, die Verständigung zu erschweren. Auch ihre vierbeinigen Begleiter schienen erschöpft.

Nikolaus Öchsli kniff die Augen zusammen. „Die Dämmerung wird bald einsetzen“, zeigte er nach Westen. „Der weitere Weg nach Engelberg ist zu gefährlich jetzt.“ Der Dritte im Bunde, Wilhelm Welsch, stieß mit seinen Stock ärgerlich auf dem Boden auf. „Wieder ein unnützer Tag“ brummte er. „Und wir sind schon vor Sonnenaufgang los und gerade mal am Stäuber vorbei. Aber der vermaledeite Schnee lässt uns nit weiter vorwärts komm´n. Es wird vielleicht eh Mitternacht, bis wir z´rück sind. Also s´ischt recht, Jakob, kehren wir um!“


Verstohlen atmete Rüdt auf. Den ganzen Tag waren die Drei schon auf der Jagd nach dem seltsamen Untier, das in den vergangenen Monaten so viel Angst und Schrecken verbreitet hatte. Sie hatten es deshalb auch auf sich genommen, den Surenen zu überqueren und sich nach Engelberg zu wenden, was im Winter nur unter größter Kraftanstrengung möglich war. Doch danach fragten sie angesichts der grausigen Bedrohung nicht. Was war das nur für eine Kreatur? Rüdt konnte nicht glauben, dass es sich um die Abart eines Bären handelte, wie immer wieder erzählt wurde. Sein mit über dreißig Jahren Jagderfahrung geschärfter Instinkt für die Tierwelt in den hiesigen Bergen sagte ihm, dass dieses Wesen etwas war, womit er noch nie zu tun gehabt hatte.
Ein Tier, das Kinder raubte, mit sich forttrug und danach gleichsam wie von Zauberhand verschwand, war nicht zu vergleichen mit allem, was Rüdt je gesehen hatte. Der Jäger war jetzt 48 Jahre alt und in der ganzen Umgebung als ruhig und bedächtig geachtet. Aufmerksam hatte er sich alle Berichte angehört, die von dem Untier erzählten, hatte gründlich abgewogen und versucht, aus Gerüchten, Übertreibungen und tatsächlichen Geschehnissen seine Schlüsse zu ziehen.
Niemand hatte das Tier gesehen. Doch es musste groß sein. Sehr groß. Wie war es sonst in der Lage gewesen, gleich zwei oder sogar drei Kinder, wie es vorgekommen sein musste, zu tragen? Und es musste die Kinder irgendwie getragen haben. Niemand hatte Spuren gefunden, dass eines der Vermissten an Ort und Stelle getötet und gefressen oder achtlos liegen gelassen worden war.
Rüdt hatte sich die Spuren genau beschreiben lassen. Sie schienen entfernt denen von sehr großen Bären zu gleichen. Ein Bär aber, vor allem wenn er auf der Flucht war, lief auf allen Vieren. Doch dieses Wesen ging aufrecht!


Was Rüdt noch weiter beunruhigte, war die Tatsache, dass zwischen diesen rätselhaften Spuren auch Pfotenabdrücke von Wölfen festgestellt worden waren. Die Abdrücke mussten den Erzählungen der Zeugen nach zur gleichen Zeit entstanden sein wie die unbekannten Spuren. Auch wenn es kaum glaubhaft schien, so konnte dies bedeuten, dass die Kreatur und die Wölfe gemeinsam Jagd gemacht hatten. Rüdt wusste, Wölfe waren Rudeltiere, die einem ranghohen Anführerpärchen, einem Rüden und einer Wölfin, gehorchten. Diese Leitwölfe hatten einen außerordentlich strengen Geruch, der ihren Rang deutlich machte. In seltenen Fällen hatte Rüdt auch beobachtet, dass Wölfe einem einzigen Tier gehorchten. Verhielt es sich hier ebenso? Zeugen hatten berichtet, dass sie einen sehr schwachen, gleichwohl abstoßenden Geruch wahrgenommen hatten, auch wenn niemand das Tier – oder war es etwas anderes? – leibhaftig gesehen hatte. War es also denkbar, dass dieses seltsame Wesen kein Bär, sondern ein Wolf war? Ein riesiger Wolf, der aufrecht ging und mit seinen Pranken die Kinder griff, beschützt von seinem Rudel? Aber weshalb dann diese Spuren, die an Bärentatzen erinnerten?
Rüdt hatte sich den Kopf zermartert und war zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Und……. wo waren die Vermissten? Von ihnen wurde nichts gefunden, keine Leichen, keine Überreste. Spuren im Schnee verloren sich bald im Dickicht der Wälder. Auch südwestlich des Weges nach Engelberg, unweit des Wissbergs, waren kurz nach der Jahreswende in der Dämmerung vier Kinder spurlos verschwunden, die miteinander am Waldrand gespielt hatten. Es hatte sich um zwei Knaben mit ihren Freunden vom Nachbarhof gehandelt. Sie waren zwischen acht und elf Jahren gewesen. Auch hier wurden die seltsamen Abdrücke, umgeben von Wolfsspuren, gefunden. Und hier fand sich erstmals eine größere Menge Blut. Rüdt hatte den Schauplatz selbst in Augenschein genommen. Als er die Blutspritzer sah, hatte auch er, der hartgesottene Jäger, sich die Hand vor den Mund halten müssen. Das unbekannte Wesen schien in rasender Wut gewesen zu sein.


Ebenso wie in den anderen Fällen wurden auch diesmal Hunde eingesetzt, um die Kreatur zu jagen. Und die Tiere hatten diesmal die Spur des unbekannten Wesens bis zu einer beinahe senkrecht aufsteigenden Felswand unterhalb des Titlis verfolgt. Während sich die Wolfsspuren im angrenzenden dichten Wald verloren, fragten sich die Jäger verblüfft, ob die unbekannte Kreatur etwa mit ihren Opfern hier hinaufgestiegen war.
Jakob Rüdt hatte aufgrund dieser Erkenntnisse den Schluss gezogen, dass es sich bei dem eigentümlichen Wesen um ein Tier handeln musste, das hier noch nicht lange lebte. Es bewegte sich lautlos und geschickt. Es konnte zugreifen, musste also so etwas wie Hände haben. Es war groß und jagte möglicherweise gemeinsam mit Wölfen. Es konnte Felswände hinaufsteigen, womöglich sogar, wenn es Beute trug. Es bevorzugte bei seinen Opfern wehrlose Kinder als leichte Beute und verschleppte sie. Rüdt vermutete, dass es auch auf Bäume klettern konnte. Er war einer der Jäger gewesen, die gezielt nach Spuren im Schnee gesucht hatten. Doch wenn das Wesen nicht fliegen konnte, dann musste es auf Bäume geklettert sein. Und es musste irgendwo einen Unterschlupf haben, wo es seine Beute hinbrachte. Nur Gott wusste, was es dort mit den Opfern anstellte. Rüdt war sicher, dass sich dieses Tier in einem abgegrenzten Revier bewegte. Verteidigte es etwa dieses Revier? Betrachtete es alle als Feinde, die seinem Versteck nahe kamen? Aber wo war dieses Versteck? Vor Rüdt´s innerem Auge erschien eine Art Höhle, aus deren Dunkelheit sich bedrohlich ein riesiger schwarzer Schatten löste und sich dorthin bewegte, wo seine Opfer wie ein Wintervorrat vergraben lagen. Und dieser Schatten ging aufrecht.
Den erfahrenen Jäger Rüdt hatte bei diesen Gedanken ein Gefühl beschlichen, das er lange nicht mehr gekannt hatte: Angst. Würgende Angst.


Das Kloster Engelberg hatte bei den eidgenössischen Schirmorten um Hilfe angefragt. Da zwischen Uri und Engelberg seit geraumer Zeit Grenzstreitigkeiten herrschten, die sich auch auf den das Gebiet des Surenenpasses bezogen, hatten die Urner nur zögernd reagiert.
Schließlich aber hatte sich Uri entschlossen, dem Kloster Hilfe zu gewähren und auf dem Weg, der über den Surenenpass zur Abtei führte, nach dem Untier suchen zu lassen.
Als Rüdt davon erfuhr, hatte er sich sofort gemeldet. Ihm war klar, dass ungeachtet aller Grenzkonflikte der unbekannten Bestie Einhalt geboten werden musste. Und er fühlte sich mit seiner langjährigen Erfahrung für die Jagd auf das Untier geeignet. Zudem war er alleinstehend, niemand wartete auf ihn.
Obwohl dies vielleicht nicht ganz stimmte. Er dachte an die Frau, in die er vor vielen Jahren verliebt gewesen war und die dann einen anderen heiraten musste. Und jetzt ging in Attinghausen das Gerücht, ihr Mann läge im Sterben.
`Vroni´, dachte er sehnsuchtsvoll. `Du bist immer noch so schön wie früher. Und ich liebe Dich immer noch….. In vielen Zeilen habe ich dies niedergeschrieben.´ Rüdt hatte in den einsamen Stunden der letzten Jahre, in denen er seiner verlorenen Liebe nachtrauerte, seine Leidenschaft zum Schreiben entdeckt. Zunächst mehr als mühsam, brachte er nach und nach mit selbstgefertigtem Federkiel Buchstabe für Buchstabe auf Pergamentblätter. Die Gedichte und Anekdoten, die er niederschrieb, spendeten ihm Trost und füllten die leeren Stunden seines Lebens. Und so schrieb er, wenn er nicht auf der Jagd war, Blatt um Blatt. Er hütete sich allerdings, jemals einem anderen davon zu erzählen.
Rüdt schüttelte diese Gedanken ab. Er war schon viel zu weit abgeschweift. Irgendetwas aber nagte an ihm. Etwas, was die Zeugen gesagt hatten und was ihn der Lösung des Rätsels näher bringen würde. Doch so sehr er auch nachdachte, jedes Mal, wenn er den Gedanken zu erhaschen suchte, entfleuchte ihm dieser. Schließlich gab er auf. Es hieß nun, sich auf die Jagd nach der unbekannten Kreatur zu konzentrieren. Verstohlen musterte Rüdt seine Begleiter. Dass ihm die mehr als zwanzig Jahre jüngeren Nikolaus Öchsli und Wilhelm Welsch zugeteilt worden waren, hatte ihm, dem bedächtigen ruhigen Mann, nicht gefallen. Nikolaus Öchsli war genauso wie Welsch ein Draufgänger. Beide stürzten sich gerne in Gefahren, ohne lange nachzudenken. Rüdt schätzte es zwar durchaus, wenn Männer Mut zeigten. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, nicht zuletzt bei der Schlacht von Sempach vor fünf Jahren gegen die Habsburger, hatte ihn aber auch anderes gelehrt. Bei der Schlacht waren zahllose Angehörige des schweizerischen Adels und Kleinadels gefallen. Ihm, dem einfachen Kämpfer Rüdt, der den Kampf schwer verletzt überlebt hatte, war bei der langen Genesung klar geworden, dass strategisches Denken und geduldiges Warten auf dem Schlachtfeld wie auch auf der Jagd mindestens genauso wichtig waren wie Mut.
Zudem war er jetzt im fortgeschrittenen Alter gezwungen, mit seinen Kräften mehr zu haushalten als in früheren Jahren. Der heutige Tag mit dem kräfteraubenden Aufstieg und der anschließenden mühsamen erfolglosen Pirsch hatte ihn erschöpft. Er gestand sich ein, jetzt lieber zu Hause sein zu wollen, um neben einem Becher Wein einige Zeilen auf ein Pergament zu bringen.


Er hob den Kopf. Während er prüfend den Weg entlang schaute, der sich vor ihnen sanft absteigend wand, und in die Schlucht führte, formte sich in seinem Gehirn ein Gedanke. „Wolfsgrube“. Im Heulen des Windes wurde das Wort, das er unwillkürlich in ehrfürchtigem Ton ausgesprochen hatte, verweht. Die Erkenntnis traf ihn unvermutet, aber dafür um so tiefer. Von der Wolfsgrube hatte ihm, als er noch ein kleiner Knabe war, schon sein Großvater erzählt. „Ein verwunschener Ort in den Bergen ist es, vom Teufel selbst geschaffen, der dort einen Schatz vergraben hat. Dorthin ziehen sich die großen Wölfe zurück, um Kraft zu sammeln, bevor sie wieder auf Jagd gehen. Der Eingang zur Wolfsgrube ist vor allen Augen verborgen. Nur in Vollmondnächten kann man ihn finden. Kein Wort darf man sprechen, hat man erst das Loch gefunden, in dem der Schatz liegt. Kein Wort, will man den Schatz dann heben. Manch einer hat sich schon aufgemacht, dorthin zu gelangen und zu Reichtum zu gelangen. Diejenigen aber, die die Wolfsgrube entdeckt haben, sind nicht zurückgekehrt.“


Vor Rüdt´s Auge zogen lange verdrängte Erinnerungsfetzen vorbei. Ein Streit zwischen seinen Eltern und die Tränen seiner Mutter. Die letzte Vollmondnacht des Monats. Sein Vater und sein Oheim, die sich vor dem Haus trafen. Er selbst, der ihnen heimlich folgte. Ein scheinbar nicht enden wollender langer Fußmarsch über den Pass. Links von dem Fluss war es gewesen, daran erinnerte er sich noch. Ein steiler Anstieg durch Geröllfelder und karge Wiesen. Ein Waldstück. Wiederum unendlich sich windende, kaum wahrnehmbare Pfade. Eine wie ein Zeigefinger drohend aufragende einzelne Felsnadel. Eine schmale, kaum wahrnehmbare Spalte hoch in einer Felswand, die das Mondlicht sichtbar gemacht hatte. War da nicht auch ein Weiher, ein Tümpel oder ein kleiner Bach am Fuße der Felswand gewesen? Rüdt wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch, dass sein Vater und sein Onkel in der Spalte verschwunden waren. Gefolgt war er ihnen, war mühsam hinaufgeklettert und hatte sich durch die Spalte gezwängt. Ein weiter Talkessel voller Herbstlaub, in den er vorsichtig hinabgestiegen war. Bedrückende Stille. Fackeln, die unsicher geschwenkt wurden. Urplötzlich Schatten, schnell wie der Wind. Grausiges Heulen, Knurren, Todesschreie. Er war in blindem Entsetzen schreiend durch den Talkessel gerannt und hatte sich durch eine Öffnung in eine Höhle gezwängt. Namenloses Grauen in der Dunkelheit. Große rechteckige Felsen, die sich beim Tasten wie Schreine anfühlten. Ein endloser Gang und eine erneut schmale Spalte, kaum eine Elle breit, durch die fahles Licht schimmerte. Schließlich die aufgehende Sonne zwischen den Bäumen…
Jakob Rüdt schluckte, als die Erinnerung ihn wieder heimsuchte. Als er gerade einmal zehn Jahre alt war, war er heimlich seinem Vater und dessen Bruder gefolgt, als diese sich in einer Vollmondnacht aufgemacht hatten, die Wolfsgrube zu suchen und den Schatz des Teufels zu bergen. Er hatte von seiner Kammer aus den Streit zwischen seinen Eltern gehört. Er hörte noch die verzweifelten Worte seiner Mutter, die ihren Mann anflehte, von dem Vorhaben abzulassen. Sein Vater aber hatte sich nicht abbringen lassen. Gemeinsam mit dem Oheim des jungen Jakob war er losgezogen.
Jakob Rüdt, von der Geschichte, die ihm der Großvater erzählt hatte, fasziniert, war ihnen heimlich nachgelaufen. Unendlich lange, so schien es ihm heute, waren sie unterwegs gewesen, waren manch falschen Fährten gefolgt und hatten umkehren müssen. Aber sie hatten den Eingang gefunden. Das Mondlicht hatte ein schwaches silbernes Band gezeichnet, das sich auf einer Wasseroberfläche gespiegelt hatte. Er war ihnen durch die schmale Felsspalte gefolgt, die, allen Blicken verborgen, hoch in einer Felswand lag.
Jakob Rüdt schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung niederzukämpfen. Das Unternehmen hatte grausam geendet. Er sah noch, wie sein Vater und sein Oheim von den Wölfen zerrissen wurden. Er selbst hatte sich, blind vor Angst, schreiend in eine Höhle geflüchtet, die im Talkessel lag. Die Wölfe hatten ihn verfolgt. Noch heute spürte er den heißen Atem in seinem Nacken, als es ihm mit mehr Glück als Verstand gelungen war, sich in die Höhle in einen schmalen Durchgang zu flüchten. Mit der Kraft der Verzweiflung hatte er einen großen Steinbrocken vor den Durchgang gewälzt. Die Kiefer, die ebenso gierig wie vergeblich nach ihm schnappten, sah er noch immer deutlich vor sich.
Es dauerte zwei Tage, bis er nach einem kräftezehrenden Irrmarsch, durch und durch verängstigt, nach Hause gekommen war. Seine Mutter war außer sich vor Sorge gewesen. Zunächst überwog die Erleichterung, den Sohn wohlbehalten wieder zu haben. Dann war sie weinend zusammengebrochen, als er stockend das Erlebte erzählte. Amtleute waren verständigt worden. Hohe Herren, darunter auch Angehörige der Geistlichkeit, hatten die Geschichte mit zweifelndem Kopfwiegen angehört. Seine Tante hingegen hatte seine Erzählung stumm verfolgt. Wenige Wochen nach der Tragödie hatte sie den Schleier genommen und war ins Kloster St. Andreas nach Engelberg gegangen.
Er selbst hatte noch Jahre später unter schlimmsten Träumen gelitten. Obwohl die Amtleute noch am Tag nach seiner Befragung Knechte mit Hunden entsandt hatten, die Wolfsgrube zu finden, war die Suche ergebnislos geblieben. Der Mond war abnehmend und nichts verriet den Eingang zu dem Talkessel. Auch einen Monat später, als wieder Vollmond war, hatten die Sucher nur die Felsnadel gefunden. Danach war jede Suche vergeblich verlaufen. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass der Himmel diesmal auch nächtens voller Wolken war. Auch die Hunde hatten keine Spur aufnehmen können. Man hatte daraufhin seine Erzählung als Hirngespinst abgetan. Und Rüdt selbst? Niemals wieder unternahm er den Versuch, den geheimnisvollen Ort zu finden, den angeblichen Schatz zu heben und reich zu werden. Und als sich in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten die Auseinandersetzungen zwischen dem Hause Habsburg und der Waldstätte schließlich immer mehr zugespitzt hatten, verschwendete er an diese Geschichte keine Gedanken mehr. In der Schlacht bei Sempach vor fünf Jahren hatte die Feindschaft zwischen den Parteien ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden. Rüdt hatte die Grausamkeit des Krieges in allen Formen kennen gelernt. Und auch danach gab es immer wieder Scharmützel. Für Knabenträume von versteckten Schätzen war kein Platz mehr.
Doch jetzt war sie ihm wieder eingefallen, die geheimnisvolle Wolfsgrube, von der außer ihm niemand wusste, ob es sie wirklich gab und wo sie sein mochte. Ein Versteck, das der Teufel selbst gemacht hatte, um seinen Schatz zu verbergen. Nun verbarg es ein Wesen, das ebenfalls der Hölle entstiegen zu sein schien. Wenn die Bestie dort ihren Unterschlupf gefunden hatte…… Rüdt lief es eiskalt den Rücken herunter. Mühsam schüttelte er den Gedanken ab. Darüber wollte er zu Hause bei warmem Kaminfeuer und einem guten Becher Wein nachsinnieren. Oder vielleicht bei zweien oder dreien. Überdies ließ sich die Einsamkeit des alternden Junggesellen damit betäuben. Mit schlechtem Gewissen nahm er sich vor, so bald als möglich seine Tante in Engelberg zu besuchen. Sie hatte bei ihrer Aufnahme den Ordensnamen Martha erhalten. Rüdt hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ob sie noch lebte?


Mit einem Mal war Rüdt hellwach. Dies lag aber nicht an den Unbilden der Natur. Unvermittelt war ein anderes wohlvertrautes Gefühl in ihm aufgestiegen. Das Gefühl nahender Gefahr. Ihm sträubten sich die Nackenhaare. Er spürte, ohne dass er es näher erklären konnte: Die Kreatur war irgendwo in der Nähe. Der Jäger lauschte. Alles war still. Nur der Wind heulte und formte Schneewehen. Jakob Rüdt´s Augen schweiften den Weg entlang, der in das Tal nach Engelberg führte. Nichts rührte sich. Es schien, als sei alles Leben erstarrt. Und doch hatte er die untrügliche Gewissheit, dass sie beobachtet wurden. Er schluckte. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr Jäger, sondern Gejagte waren, fuhr ihm in die Glieder. Öchsli und Welsch hatten nicht auf ihn geachtet, sondern redeten leise miteinander. Gerade als Rüdt den Mund öffnete, um seine Kameraden zu warnen, schlugen die Hunde an. Die Tiere zerrten in die Richtung, in die der alte Jäger gerade geschaut hatte. „Sie hab´n was gewittert!“, rief Welsch. „Auslassen!“, befahl Rüdt. Sie ließen die Hunde los, die sich sofort aufgeregt bellend durch den hohen Schnee kämpften. Alle Erschöpfung schien vergessen. Bald waren die Tiere um die nächste Wegbiegung verschwunden. Sogar Rüdt´s eigener Hund hatte sich vom Jagdeifer mitreißen lassen. Nur zorniges Kläffen war zu hören. Die Waidmänner spannten ihre Armbrüste und folgten ihnen. Aber der Schnee ließ sie nur mühsam weiter kommen, während das Gebell vor ihnen immer wütender wurde. Jakob Rüdt spürte, dass ihn der heutige Tag viele Kräfte gekostet hatte. Während Welsch und Öchsli voraus stürmten, blieb der grauhaarige Jäger immer weiter zurück. Dann stolperte er über eine unter dem Schnee verborgene Wurzel und stürzte. Sein überraschter Schrei ging im Pfeifen des Windes unter. Er schlug hin, wobei ihm seine Armbrust aus der Hand glitt. Der aufgelegte Bolzen verschwand im schier endlosen Weiß. Fluchend raffte er sich mühsam auf, zog einen anderen Bolzen aus seinem Futteral und machte seine Waffe wieder schussbereit. Er sah nach vorne und bemerkte erschrocken, dass seine Kameraden schon um die Biegung verschwunden waren. Rüdt stapfte keuchend vorwärts, um sie wieder einzuholen, musste aber bald atemlos innehalten. Er verwünschte sein Alter. Dann vernahm er verwundert, wie das Gebell der Hunde schlagartig verstummte und plötzlich in ein klägliches Jaulen und Winseln überging. Unmittelbar danach hörte der Jäger, wie Öchsli und Welsch Schreckensrufe ausstießen. Geradezu panische Schreie drangen an sein Ohr. Dazwischen mischte sich ein tiefes Knurren und Grunzen, das ihn im Innersten erzittern ließ. Rüdt blieb wie angewurzelt stehen. Große Felsen nahmen ihm die Sicht, so dass er nichts erkennen konnte. Für einen kurzen Moment war alles still. Plötzlich ertönte vielstimmiges Wolfsgeheul. Rüdt wusste, seine Kameraden waren in Todesgefahr. Er musste ihnen helfen! Aber durch seinen Körper lief ein Zittern, das er nicht unter Kontrolle brachte. Er öffnete den Mund, um nach seinen Kameraden zu rufen. Doch kein Laut kam über seine Lippen. Er vermochte nicht einmal, weiterzulaufen. Geräusche ertönten, die wie Kampfeslärm klangen. Es hörte sich aus der Ferne an wie Lanzen, die sich in Fleisch bohrten. Die Schreie, die danach an sein Ohr drangen, gingen ihm durch Mark und Bein. Er wusste, es waren die Todesschreie seiner Kameraden. Doch klangen sie nicht mehr menschlich. Dann war alles still. Rüdt spürte etwas Warmes in seiner Hose. Er schaute ungläubig nach unten. Er hatte sich in die Hose gemacht. Nie zuvor war ihm dies passiert.


Noch während er versuchte, das zu glauben, was er sah und spürte, überlief ihn ein eisiger Schauer. Das Knurren ertönte erneut, diesmal ganz aus der Nähe. Rüdt sank in die Knie. Die Armbrust fiel ihm aus seiner zitternden Hand. So blieb er einige Augenblicke, willenlos und wie in einem grauenhaften Traum. Erst ein eisiger Windstoß brachte ihn wieder zur Besinnung. Er rappelte sich hoch und floh in blindem Schrecken Hals über den Kopf zurück, von wo er gekommen war.



Leseprobe 2:

02. April 1391, Kloster Engelberg
Die Terz war vorüber und Johannes verließ gemeinsam mit zahlreichen anderen Gläubigen die Kirche des Männerkonvents. Als Gast hatte er zwischen den Bauern, Lehensnehmern, Handwerkern und Hörigen im Laienschiff Platz nehmen müssen. Dies aber hatte ihn nicht daran gehindert, Gott während der Andacht innig für die glücklich vollbrachte Reise zur Abtei zu danken. Er verließ das Gotteshaus und sah sich um. Verwundert bemerkte er, dass die Bauern mitnichten Anstalten machten, rasch das Kloster zu verlassen. Während sich die Knechte der Abtei zu ihrer Arbeit innerhalb der Anlage begaben, standen ganze Familien in Gruppen zusammen und tuschelten. Ihre Gesichter drückten Sorge aus. Suchten diese Menschen etwa aus Angst vor der Kreatur Schutz hinter den Mauern der Abtei? Doch Johannes verdrängte diese Gedanken. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. So lief er am inneren Tor vorbei über den abschüssigen Vorhof zum Gästehaus. Er beabsichtigte, nunmehr das Buch, das ihm in Bregenz anvertraut worden war, zurückzugeben. Er hoffte, dass die Magistra ihn empfangen würde. Er trat durch die Türe, die sich im Giebel des großen Gebäudes befand und nickte der jungen Ordensfrau zu, die in einem mit sorgfältigen Schnitzereien versehenen Kämmerchen aus dunklem Holz gegenüber der Türe saß.


Johannes trat ein. Wie in allen Klöstern, in denen ihm von Abt oder Äbtissin eine Audienz gewährt worden war, kniete er nach dem Eintreten nieder und beugte das Haupt. Eine schmale Hand mit einem Siegelring rückte in sein Blickfeld. Er berührte mit den Lippen den Ring und sah sogleich wieder auf den blankpolierten steinernen Boden. „Erhebt Euch!“, ertönte eine helle Stimme. Johannes stand langsam auf, den Blick immer noch auf den Boden gerichtet. „Gelobt sei Jesus Christus“, erklang die Stimme erneut. „In Ewigkeit, Amen“, antworteten Johannes und Schwester Anna gleichzeitig. „Erhebt Eure Augen.“ Johannes folgte der Aufforderung. Vor ihm stand eine schlanke, etwa vierzigjährige Frau mit wachen grünen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Unter dem schwarzen Schleier der Meisterin mochten sich rotblonde Haare verbergen, von denen einige wenige frech hervorlugten. Kleine Fältchen an ihren Mundwinkeln, dazu eine schmale Nase und hohe Wangenknochen ließen erahnen, dass sie eine über die Maßen attraktive Frau war. In der Welt außerhalb der Klostermauern hätten sicherlich zahllose Männer um sie gefreit. In ihrem Ordensgewand aber strahlte sie eine ruhige Autorität aus. Sie trat langsam hinter den Schreibtisch, der sich an der Stirnseite der Kammer befand und setzte sich sorgsam. Dann bedeutete sie Johannes, auf der kleinen Bank, die sich vor dem Tisch befand, Platz zu nehmen. Johannes dankte mit einem Nicken und setzte sich. Schwester Anna blieb stehen, beide Hände in die Ärmel ihrer Kutte gesteckt. Magistra Margaretha streckte in einer majestätischen Geste die Hand aus. Johannes überreichte der Meisterin seine Empfehlungsschreiben. Während die Magistra las, musterte der Mönch rasch die Kammer, in der er sich befand. Sie besaß ein Gewölbe, war aber bedeutend kleiner als das Amtszimmer von Abt Heinrich in Bregenz oder das der Äbtissin Ursula in Geisenfeld. Die Kammer war schlicht, weiß getüncht und ohne jedes Bildnis. Auf dem aus hellem Holz sorgsam gearbeiteten Schreibtisch stand außer einem Töpfchen nebst einem Federkiel sowie einer kleinen bronzenen Glocke nur ein gedrechselter Kerzenhalter mit geschmiedetem dreibeinigem Eisensockel. Auf der oberen runden, geriffelten Platte brannte eine Kerze mit dem Abbild der Heiligen Maria Mutter Gottes, das Jesuskind auf dem Arm. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing ein sorgsam geschnitztes großes Kreuz. An der rechten Seite des Raumes stand eine große, etwa zwei Ellen hohe und sechs Ellen lange Truhe aus hellem Holz, die mit schweren Beschlägen und vier Schlössern gesichert war. Die Truhe war so groß, dass ein Knabe oder eine Maid bequem darin Platz gefunden hätte.
Die linke Wand der Kammer war ebenfalls ohne jeden Schmuck. Nur in der Mitte befand sich eine geschlossene Türe aus dunklem Holz.
Die Magistra las zuerst das Coburger Empfehlungsschreiben. Als ihre Augen über die letzten Zeilen glitten, stutzte sie. Sie rollte das Schriftstück zusammen und legte es sorgfältig auf die Tischplatte.
Dann richtete sie ihre Augen auf den Mönch und musterte ihn prüfend. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, von dem Johannes nicht wusste, wie es zu deuten war. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem zweiten Empfehlungsschreiben zu. Johannes bemerkte, wie sich die Augenbrauen der Meisterin erstaunt hoben, je länger sie las.
Als Magistra auch die Worte des zweiten Schreibens gelesen hatte, ließ sie das Schriftstück sinken und schaute den Besucher forschend an. „Nun Bruder Johannes, berichtet mir von Euch und Eurer Pilgerfahrt“, forderte sie den jungen Mönch auf. Johannes erzählte also von seinem Heimatkloster und den Aufgaben, die er in Coburg innegehabt hatte. Er erwähnte die schwere Erkrankung seines Abtes und berichtete, dass ihn dieser nach Santiago geschickt habe, um für sein Seelenheil zu beten. Das Messer mit dem Heiligen Holz ließ er wie schon in Bregenz unerwähnt. Als er in knappen Worten seinen Aufenthalt im vergangenen Jahr in Geisenfeld erwähnte, schien ihm, als würden die Gesichtszüge der Meisterin erstarren. Doch währte dies kaum einen Lidschlag lang, so dass er sich fragte, ob er nicht einer Täuschung erlegen war. Er schilderte seine Reise nach Bregenz, ohne dabei auf deren dramatische Umstände einzugehen. Er erklärte nur, im Kempter Wald von Strauchdieben überfallen und von Spielleuten gerettet worden zu sein. Er erwähnte lobend und voller Dankbarkeit die Zeit der Aufnahme im Kloster Mehrerau und schloss mit der Erwähnung des Buches, das er nunmehr auszuhändigen habe.
Die Meisterin sah ihn mit ihren klugen grünen Augen unentwegt an, lauschte aufmerksam seiner Erzählung und unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Als er geendet hatte, lehnte sie sich nachdenklich zurück. Nach einer Weile des Schweigens bedeutete sie Johannes mit einer Geste, das Buch vorzulegen. Der Mönch nahm das blaue Bündel und legte es achtsam auf den Schreibtisch. „Das Tuch hat ein wenig gelitten, als ein Felssturz am Etzelpass niederging“, sagte Johannes entschuldigend. „Doch entstand kein Schaden“, fügte er hastig hinzu.
Meisterin Margaretha winkte Schwester Anna, die bislang geschwiegen hatte. Diese trat näher und öffnete das Tuch. Sie entnahm ein Stück Pergament und reichte es der Magistra, die es überflog und beiseite legte. Dann schlug Anna das blaue Tuch zurück und trat sogleich zur Seite. Zum Vorschein kam das Kettenbuch, das Johannes schon im Skriptorium in Bregenz gesehen hatte. Die Magistra ergriff das Buch, wog es in den Händen und nahm es sorgsam in Augenschein. Sie schlug es auf und blätterte darin. Dann sah sie zuerst Anna, dann ihren Besucher an und nickte zufrieden. „Das Buch ist unversehrt. Gepriesen sei Gott, dass es den Felssturz ohne Schaden überstand. Zum Dank dafür, dass Ihr das Werk heil zurückbrachtet, gewähre ich Euch einen Blick hinein. Es ist ein wertvolles Buch über Heilpflanzen. Eine meiner Mitschwestern brachte es im vergangenen Herbst aus ihrem damaligen Konvent mit. Es leistet uns im Infirmarium große Dienste beim Heilen der Kranken.“ Sie sah Schwester Anna an, die das Buch nahm und Johannes überreichte. Dann gab die Magistra ihrer Mitschwester einen Wink. Anna beugte sich zur Meisterin. Diese flüsterte einige Worte, die Johannes nicht verstehen konnte. Schwester Anna nickte und verließ die Kammer der Meisterin durch die Zwischentüre in den nebenliegenden Raum.
Währenddessen besah sich Johannes das Kettenbuch. Er wunderte sich über diese Gunst, war es doch unüblich, dass Außenstehende darin lesen durften, noch dazu in Gegenwart einer Leiterin eines Konvents. Dennoch wendete er vorsichtig Blatt für Blatt. Auf manchen Seiten waren mit kräftigem Federstrich in gestochen scharfer Schrift Erfahrungen mit den Kräutern an den Rand kommentiert.
Johannes stutzte. Als ihm klar wurde, was er da betrachtete, entfuhr ihm unwillkürlich ein Laut der Überraschung. Er kannte diese Schrift! Es war ihre Schrift! Ungläubig hob er den Kopf und sah die Meisterin an, die sich wieder zurückgelehnt hatte und ihn aufmerksam betrachtete. Das konnte nicht sein! Wieder beugte er sich über das Buch, so weit, bis seine Nase beinahe die Seiten berührte. Jeden Buchstaben fuhr er mit dem Zeigefinger nach. Er dachte angestrengt nach. Aufgeregt schlug er Seite um Seite um. Auf gut drei Dutzend der Blätter waren diese Kommentierungen angebracht.
Er sammelte mühsam seine Gedanken. Im vergangenen Jahr in Geisenfeld hatte er ihr einmal zugesehen, wie sie über einem Buch saß, das verschiedenste Heilpflanzen und ihre Wirkungen beschrieb. Dabei hatte sie ihre Erfahrungen an den Rand kommentiert. Wie ihre Stimme, so hatte auch ihre Schrift eine unverwechselbare Note. Schwungvoll, im Bewusstsein Ihres Wissens über die Heilkunst, so hatte sie ihre Anmerkungen niedergeschrieben.
Es gab keinen Zweifel. Dieses Buch, das er in Händen hielt, war das, welches er in Geisenfeld gesehen hatte! Und es war von Magdalena beschrieben worden! `Ganz ruhig´, ermahnte er sich. `Ruhig nachdenken. Es kann sich um einen Zufall handeln.´ Vielleicht stammte das Buch aus Geisenfeld und war auf verschlungenen Wegen hierhergekommen. Und sogar, wenn das nicht der Fall sein sollte, dann konnte es immer noch sein, dass in Engelberg eine Schwester lebte, welche dieselbe Handschrift hatte wie die geliebte Frau. Doch was hatte die Meisterin gesagt? `Eine meiner Mitschwestern brachte es im vergangenen Herbst aus ihrem damaligen Konvent mit.´
In Johannes´ Kopf wirbelten die Gedanken. Wieder sah er die Magistra an, die ihn unverwandt schweigend betrachtete. Er öffnete den Mund. Doch bevor er etwas sagen konnte, hob die Meisterin Einhalt gebietend die Hand. Sie ergriff die kleine bronzene Glocke, die auf dem Schreibtisch stand. Ein helles Klingeln ertönte.
Die Türe zur nebenstehenden Kammer öffnete sich. Johannes wandte den Blick dorthin und erstarrte. Im Türrahmen stand Schwester Simeona, die ehemalige Leiterin des Skriptoriums aus Geisenfeld und sah ihn mit kalten Augen an.


*


Band III: Der Schatten des Erbfeinds

Leseprobe 1:

24. April 1391, in einem Wald irgendwo südlich von Lyon
‚Nur noch ein kurzes Stück!‘, flüsterte Pierre Lagarde, als er neben seinen Ochsen durch den Wald zurück zu seinem Hof hastete. Er war mit den Tieren beim Pflügen gewesen. Pflügen auf dem Acker seines Grundherrn, mehr als zwei Stunden Fußmarsch von seinem Hause entfernt. Morgen sollte er dort mit der Egge arbeiten.
Lagarde war zweiunddreißig Jahre alt und Lehensnehmer des Grundherrn Maleville. Dieser hatte ihm eine halbe Hufe Land zur Bewirtschaftung zugeteilt. Eine halbe Hufe umfasste sechs Gewann, das waren neun Hektar. Felder, Äcker, Wiesen und auch ein Waldstück fanden sich auf diesem Stück Land. Dafür musste Lagarde wie viele seiner Standesgenossen nicht nur erhebliche Abgaben an Korn und Holz, sondern zusätzlich auch Scharwerke leisten. Er musste einen großen Acker bestellen, der südwestlich eines ausgedehnten Waldstücks lag. Wenn er dort arbeitete, dann dauerte es meist bis zum späten Abend, bis er fertig war. So war es auch heute gewesen. Zusätzlich zu der zugeteilten halben Hufe verfügte Lagarde über einen eingezäunten Garten, den er gemeinsam mit seinem Weib Lavinia bewirtschaftete. Vier Kinder galt es zu ernähren und schließlich forderte auch die Kirche ihren Zehnt. Wenn dies auch nicht mehr so wie früher genau ein Zehntel der Erträge war, das an das Erzbistum Lyon bezahlt werden musste, so ächzten die Bauern doch unter der Fron. Zehn Jahre zuvor, so hatte Lagarde einmal nach dem sonntäglichen Kirchgang gehört, hatte es im fernen England einen Aufstand der Bauern gegen die Willkür der Herrschenden, gegen die drückenden Steuern gegeben. „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ Diesen Satz hatte er flüsternd hinter vorgehaltener Hand vernommen und sich sogleich angstvoll umgesehen, ob nicht jemand ihn gehört hatte. In England war es das Ziel der Bauern und Leibeigenen gewesen, den König zu zwingen, alle aus der Knechtschaft zu entlassen. Ein Prediger, Lagarde wusste den Namen nicht, hatte sie dazu angestiftet. Der König war anfangs zum Schein darauf eingegangen, hatte dann aber die Bewegung blutig niedergeschlagen. Und danach, so wurde erzählt, wurden die Bauern und Leibeigenen umso härter unterdrückt und geknechtet.


Lagarde schürzte die Lippen. Unnütze Gedanken waren dies. Er hatte genug Sorgen um das tägliche Brot. Der Pfarrer predigte regelmäßig, dass alles Gott gewollt sei, dass bei aller Mühsal auf Erden nach dem Tod ein besseres Leben begann. Er wie auch die anderen Bauern hatten sich zu fügen, gleich welche Schicksalsschläge auf sie warteten. Gott wollte es so.
„Ho, ihr müden Kerle, voran“, trieb der Bauer seine beiden Ochsen an und knallte mit der Peitsche. Mit einer Fackel, die er in der verkrampften Hand hielt, leuchtete er mal nach der einen, mal nach der anderen Seite des Weges zwischen die Bäume. Unheimlich war es in diesem Wald. Und es waren nur noch sechs Tage. Sechs Tage bis zum Tanz der Hexen. Seit einigen Jahren, immer in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, so wurde angstvoll geflüstert, würden sich zuerst Stürme erheben. Die „Wilde Jagd“ solle dies sein. Dann fand irgendwo unweit von hier auf einer Lichtung eines bewaldeten Hügels ein unheimliches Treiben statt. Hexen und Zauberer würden dort feiern und abscheuliche Rituale abhalten, hieß es. Sogar der Leibhaftige selbst solle dabei erscheinen. Manche munkelten, die Hexen würden Buhlschaft mit ihm treiben. Dafür würde er ihnen magische Kräfte verleihen, damit sie Tod und Schrecken verbreiten konnten. Wenn nach dem Tanz der Hexen Pferde mit geflochtenen Mähnen und Schwänzen in den Ställen standen, wenn Vieh auf der Weide starb, Hebewetter einsetzte oder Frauen Fehlgeburten erlitten, dann war dies das Ergebnis davon. Die Hexen brachten das Gleichgewicht der göttlichen Ordnung durcheinander und Gott strafte die Menschen dafür. Er würde Hunger folgen lassen, Krieg und Verwüstung.


Lagarde schüttelte sich vor Unbehagen. Manchmal erzählte man sogar, dass Tage nach dem geheimnisumwitterten Treiben neben erkalteten Feuerstellen Lachen von getrocknetem Blut auf großen Steinen gefunden worden seien. Auch Knochen, Fetzen von Kleidern und einmal sogar ein zerbrochenes verbranntes Kreuz seien Beweise für den Hexentanz gewesen. Lagarde aber wusste von keinem, der jemals selbst an dieser verwunschenen Stelle gewesen war. Es gab nur Gerüchte. Jemand kannte jemanden, der jemanden kannte, der diese Stelle schon gesehen haben wollte.
Früher war dies nicht so gewesen. Doch vor etwa einem guten halben Dutzend Jahren hatten diese Gerüchte erstmals die Runde gemacht. Und in der Tat, Lagarde hatte, aufmerksam geworden, schon das eine oder andere Mal beobachtet, dass sich in diesen Nächten stürmische Böen erhoben hatten. Er aber wusste nicht, was er davon halten sollte. Sein Kopf schmerzte vom vielen Nachdenken und er beschloss, sich auf den Weg zu konzentrieren. Schließlich war er nur der einfache Bauer, der täglich dafür Sorge trug, dass seine Familie satt wurde.


Mittlerweile war es vollends dunkel geworden. „Nur noch ein kurzes Stück!“, murmelte Lagarde erneut. Schon konnte er das Ende des Waldes erahnen. Plötzlich scheuten die Ochsen. Sie schnaubten und blieben stehen. „Ho!“, rief der Bauer und ließ seine Peitsche knallen. Doch die Tiere weigerten sich, auch nur einen Huf vor den anderen zu setzen. Was war das? Lag da ein totes Stück Wild auf dem Weg? Lagarde lüpfte seinen breiten Strohhut. Langsam ging er nach vorne und leuchtete. Doch da war kein Tier. Ratlos kratzte er sich am Kopf. Was war nur los? Er schnupperte. Ein schwacher, kaum wahrnehmbarer eigenartiger Geruch fiel ihm auf. Es dauerte einen Moment, bis Lagarde bewusst wurde, was es war: Schwefel.
Das Herz des Bauern klopfte bis zum Hals. Kaum wagte er, mit zitternden Händen seine Fackel zu schwenken und zwischen die Bäume zu sehen. Tatsächlich, neben einer mächtigen Buche sah er eine große Gestalt in einem dunklen knöchellangen Umhang. Die Kapuze, die die Gestalt trug, verdeckte das Gesicht. Doch stand sie beidseits eigentümlich weit ab.
„Allô?“, krächzte Lagarde ängstlich. Keine Antwort, doch schien es, als winke ihn der Fremde heran. Langsam trat er näher und hob die Fackel in der Erwartung, das Gesicht des Fremden zu sehen.
Das, was der Bauer im flackernden Schein erblickte, jagte ihm blankes Entsetzen ein. Die Fackel fiel aus seiner Hand. Er riss die Augen auf und stieß einen lauten Schrei aus. Dann sackte er kraftlos in die Knie. Fassungslos starrte er auf den Pferdehuf, der unter dem Umhang hervorlugte, hörte das höhnische Lachen. Dann fiel er in Ohnmacht.

Leseprobe 2:

3. Mai 1391, auf dem Landgut des Edelmanns De Manuel
„Seid willkommen in Manuelibus, Frère Johannes! Seid willkommen, Ihr und im selben Maße Eure Begleiter. Bleibt, so lange ihr wollt, wenn nicht die Umstände Eure Abreise an einen anderen Ort erfordern.“ Johannes, der zuvor niedergekniet war, richtete sich wieder auf. Seine Gefährten folgten seinem Beispiel. Sie befanden sich im Saal des Herrenhauses. Vor Ihnen, an der Stirnseite, saß Nicolas De Manuel an einem langen Tisch. Der Edelmann war etwa dreißig Jahre alt und von hagerer Gestalt. Dunkelbraune Haare umrahmten ein verschmitztes, gleichwohl melancholisches Gesicht, das von Falten durchzogen war, als habe er schon schwere Zeiten erlebt. Sein kräftiges Kinn zierte ein Spitzbart. Der Edelmann trug eine burgunderfarbene Cotte mit gestickten Borten. Der Fürspan, der seinen Ausschnitt verschloss, bestand allem Anschein nach aus Gold und war kunstvoll gefertigt. Eine grüne Gugel hatte er an der Gesichtsöffnung aufgerollt und über seiner Bundhaube auf den Kopf gesetzt. Das Schulterteil hing an der Seite herunter, der Zipfel war um den Hals geschlungen. Der linke Arm des Chevaliers ruhte auf einem Kissen. Die Hand steckte in einem Falknerhandschuh. Darauf saß ein Wanderfalke, der mit einer Beinfessel daran gebunden war. Vor dem Edelmann stand eine kleine irdene Schüssel auf dem Tisch.


Zur Rechten des Chevaliers saß seine Gemahlin Heléne Griffon und betrachtete die Besucher aufmerksam. Sie schien ebenso alt wie ihr Gemahl zu sein, hatte lange blonde Haare, die nun aber hochgeflochten und von einer kleinen schwarzen Haube bedeckt waren. Sie trug ein langes schwarzes Kleid aus edlem Tuch. Sie schien geweint zu haben, denn die Partie um ihre klugen, blauen Augen war ein wenig verquollen. Doch untermalte dies nur ihre große Schönheit. ‚Wolfram hat recht gehabt‘, dachte Johannes im Stillen. ‚Die Anmut der Edelfrau wird zu Recht gerühmt.‘
Neben De Manuel saß ein mittelgroßer schlanker Mann mit braunem Vollbart und dunklem Wams. Johannes kannte ihn bereits. Es war der Medicus des Edelmanns, Magister André. Dieser hatte den jungen Mönch nach dem Felssturz vor einigen Wochen untersucht und ihm Hilfe angedeihen lassen. Seine leicht spöttische Miene und die hochgezogenen Augenbrauen ließen darauf schließen, dass er den Besuch zuvorderst als willkommene Unterhaltung betrachtete.
Zwischen den Besuchern und den Herrschaften stand linker Hand ein Schreibpult. Dahinter schaute ein Geistlicher mit hellbrauner Tonsur und strengem Gesicht, eine Schreibfeder in der Hand, abwartend auf seinen Herrn. Eine helle, gegürtete Tunika mit weißem Skapulier und ein dunkelbrauner, beinahe schwarzer Kapuzenmantel wiesen ihn als Angehörigen des Dominikanerordens aus. Johannes hatte ihn schon am Vorabend gesehen. Der Dominikaner hatte auf dem Landgut die Aufgabe des Kaplans und Beichtvaters inne. Der Kaplan hatte bemerkt, dass ein Benediktiner der Messe beigewohnt hatte, dem Mönch aber bis auf ein angedeutetes Nicken weiter keine Beachtung geschenkt. Auf dem Schreibpult befanden sich einige Stücke Pergament nebst einem kleinen Fässchen Tinte.
Johannes kam zu Bewusstsein, dass die Worte des Chevaliers dieselben waren, die er in seinem Einladungsschreiben verwendet hatte. Wie schon dort schienen sie auf eine gewisse Zweideutigkeit hinzuweisen, die er sich nicht erklären konnte.


„Ihr dürft Euch setzen“, erklang die amüsierte Stimme des Medicus. Johannes nickte seinen Gefährten zu und alle nahmen auf der langen Bank gegenüber den Herrschaften Platz. Noch bevor sie hereingekommen waren, hatte ihnen François, der Diener, zugeraunt, dass der Chevalier nach ihrer Vorsprache noch manche Gespräche mit Verwaltern zu führen, Streit zu schlichten und Fragen zu den Abgaben zu entscheiden hatte. „Doch zunächst wird sich unser Herr für Euch ein gerüttelt Maß an Zeit nehmen.“
Der Greifvogel schlug mit den Flügeln und die Glöckchen, die an seinen Füßen befestigt waren, klingelten. De Manuel flüsterte dem Falken etwas zu und das Tier beruhigte sich. Er richtete das Wort an seine Besucher. „Meine Gemahlin und ich sind voller Schmerz über den Tod des Einsiedlers. Yvain, wie er sich nannte, war der Oheim meiner Gemahlin und uns stets verbunden. Doch hatte er seinen wahrhaftigen Namen und seinen Titel vor Jahren abgelegt. Er, der einst ein gefürchteter Kämpfer mit Bogen, Schwert und Lanze für König Karl V. war, hatte sein Leben Gott geweiht. Ich habe daher noch gestern auf dem Gut und im Dorf Chavanay kundtun lassen, dass heute und die nächsten beiden Tage Trauer herrschen soll.“ De Manuel schwieg nach diesen Worten.


Christine, die ihren Sohn im Arm hielt, konnte nicht verhindern, dass die Tränen in ihre Augen stiegen. Sie senkte ihren Kopf, blinzelte und schluckte in der Hoffnung, es bleibe unbemerkt.
Da erklang die Stimme der Edelfrau Heléne Griffon. „Ihr, die Ihr das Kind bei Euch tragt, wie ist Euer Name?“ „Christine“, antwortete die Angesprochene. „Christine, wo ist Eure Heimat?“, fragte die Gemahlin von De Manuel weiter. „Meine Heimat war ein kleines Dorf in der Nähe von Brest, das von den Engländern vor vier Jahren verheert wurde“, sagte Christine. „Das Dorf gibt es nicht mehr.“ Die Edelfrau nickte versonnen. „Euch verbindet etwas Besonderes mit Yvain.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Christine schluckte. Die Gemahlin des Chevaliers sah sie auffordernd an. „Euch ist in Eurem Leben mehrmals Schreckliches widerfahren. Ihr wart in Todesnot und Yvain stand Euch bei, ist es nicht so?“ „Ja, so ist es“, flüsterte Christine. Heléne nickte sacht. „Doch habt Ihr es nun in der Hand, Eurem Leben und dem Eures Kindes eine Wende zu geben“, fuhr sie fort. „Gott, unser HERR, hat Euch bereits ein Zeichen gesandt, nur habt Ihr es noch nicht erkannt. Seid also des toten Yvain eingedenk und trefft Eure Wahl weise.“ Christine öffnete ob dieser Worte verwundert den Mund. Magdalena, die neben ihr saß, drückte ihr verstohlen die Hand und Christine unterließ eine Erwiderung. Heléne indes, die Magdalenas Geste wohl bemerkt hatte, schenkte ihr ein wissendes Lächeln.


„Frère Johannes“, richtete De Manuel das Wort an den jungen Mönch. „Yvain wurde heute Morgen gleich nach der Prim in aller Stille beigesetzt. Von heute an wird jeden Abend für ihn in der Kapelle eine Messe gelesen, bis ein Jahr vergangen ist. Doch erzählt mir, wie ihr ihn kennengelernt habt und welch schlimmes Ereignis zu seinem Tode führte.“
Johannes beugte sich vor und sah Hubertus an. „Gestattet auch meinem Begleiter Hubertus, hiervon zu erzählen.“ De Manuel machte eine zustimmende Geste. Johannes und Hubertus erzählten nun von dem Tanz der Hexen unter Führung des Teufels und seines Weibes. So manche Begebenheit ließen sie jedoch wohlweislich unerwähnt. De Manuel, sein Weib und der Magister waren zuerst erstaunt, dann zutiefst erschrocken. Der Dominikaner bekreuzigte sich mit aschfahlem Gesicht dreimal. „Herr, denkt an Pierre Lagarde“, sagte er beschwörend. „Und denkt an den Himmelskörper, der just in der Nacht zum 1. Mai über das Firmament zog. Ein böses Zeichen! Es ist also wahr!“
De Manuel nickte ob der Worte des Kaplans und wandte sich an seine Besucher. „Es traf Kunde vor einigen Tagen ein, dass ein Höriger unweit östlich der Rhône den Antichrist selbst gesehen haben will. Er schwor beim Allmächtigen, dass ihm des Nachts ein Mann in einem Umhang begegnet sei, als er mit seinen Ochsen auf dem Nachhauseweg war. Schwefel habe er gerochen. Ein Mann in dunklem Umhang sei am Wegesrand gestanden, der statt eines Fußes einen Huf gehabt habe. Der Bauer fiel darob in Ohnmacht. Als er erwachte, waren die Ochsen fort. Man hatte angenommen, er habe diese Geschichte ersonnen, um so die Tiere selbst heimlich verkaufen zu können. Doch auch bei peinlicher Befragung blieb er bei seiner Aussage. Und wie der Kaplan schilderte, so zog ein Feuerball vor drei Nächten seine Bahn über den Himmel.“ Johannes nickte. „Wir haben den Himmelskörper gesehen. Die Hexen und Zauberer begrüßten ihn mit Jubel.“


De Manuel wandte sich wieder an den Kaplan, der sich erneut hastig bekreuzigt hatte. „Der Chevalier De Mantague muss benachrichtigt werden. Ihr habt recht, es scheint, als habe der Hörige die Wahrheit gesprochen.“ Kaplan Roger neigte eifrig sein Haupt. „Ich werde alles in die Wege leiten.“ Er bekreuzigte sich vorsichtshalber aufs Neue. De Manuel forderte Johannes auf, weiter zu erzählen. Als der junge Mönch berichtete, welche Predigt der Teufel seinen Anhängern gehalten hatte, hielten alle den Atem an. „Chevalier …“, sagte Johannes eindringlich, „Chevalier, der Teufel will unzweifelhaft die heilige Mutter Kirche und alle Gläubigen vernichten. Er hat in der Nacht des 30. April seine Gefolgschaft ausgesandt. Gebe Gott, dass es noch nicht begonnen hat. Doch soll kein Mann, kein Weib, kein Kind mehr sicher sein. Angst, Schrecken und Tod will der Höllenfürst verbreiten und die Christenheit ins Verderben stürzen!“
Obwohl dem Edelmann ebenso wie seinem Weib und auch dem Magister ob dieser Worte die Bestürzung ins Antlitz geschrieben stand, bemühte er sich um Haltung. Mit ruhiger Stimme sagte er: „Dies ist zweifellos eine schreckliche Nachricht. In der Tat, dem Bösen muss Einhalt geboten werden! Kaplan, habt Ihr alles mitgeschrieben?“, wandte er sich an den Geistlichen. Am ganzen Körper zitternd, nickte dieser und bekreuzigte sich ein weiteres Mal. De Manuel klatschte in die Hände. Die Türe zum Saal öffnete sich und ein junger Diener trat ein. Der Chevalier machte eine befehlende Geste und der Diener lief zum Kaplan. Dieser gab ihm das Schriftstück, welches sogleich dem Edelmann vorgelegt wurde. De Manuel überflog das Schreiben und streckte die Hand aus. Sogleich lief der Diener und holte vom Schreibpult die Feder und das kleine Tintenfass. Der Edelmann überlegte einen Moment, dann schrieb er einige Zeilen auf das Pergament, überflog es ein weiteres Mal, setzte schließlich schwungvoll seine Unterschrift darunter und gab das Schriftstück an den Diener. „Versiegle das Schreiben. Es muss sofort zum Erzbischof von Lyon. Eile, denn es gilt, keine Zeit zu verlieren. Und gib danach dem Kellermeister Bescheid, er möge dafür sorgen, dass Wein gebracht wird.“ Der junge Bedienstete verbeugte sich gehorsam und eilte hinaus. Der Kaplan wartete auf ein Zeichen seines Herrn, dann holte er sich Schreibfeder und Tintenfass zurück, legte ein weiteres Stück Pergament zurecht und wartete.
Der Edelmann nickte entschlossen. „Ich sage noch einmal: Dem Bösen muss Einhalt geboten werden! Ihr habt gut daran getan, dies kundzutun, Frère Johannes und auch Ihr, Hubertus. Doch nun berichtet, wie es Euch weiterhin erging.“


Johannes und Hubertus schilderten, wie sie erfahren mussten, dass der Leibhaftige und sein Weib auf Magdalena und Irmingard eingestürmt waren und berichteten vom Kampf und Sterben des Einsiedlers. Der Dominikaner schrieb trotz seiner zitternden Hände eifrig mit. „Der Teufel, sein Weib und einer seiner ruchlosen Diener flohen auf einem schwarzen Ross. Yvain indes konnten wir nicht mehr retten. Christine und ihr Kind …“ Johannes schaute die junge Frau an. „Christine und ihr Kind nahmen wir bei uns auf. Es steht ihr nun frei, zu entscheiden, was sie fürderhin tun möchte.“ „Wenn sie gewillt ist, sich uns auf unserer Pilgerfahrt anzuschließen, ist sie in unserer Mitte willkommen“, schloss der junge Mönch.
„Ich danke Euch für Euren Bericht. Ihr dürft gewiss sein, wir werden noch Gelegenheit finden, über so Manches zu sprechen“, sagte De Manuel.


„Sind Eure Wunden gut verheilt?“, richtete Magister André nun das Wort an den Mönch. „Es kamen noch manche dazu“, antwortete Johannes. „Doch ja, dank Eurer Hilfe bin ich von den Folgen des Felssturzes am Etzelpass gut genesen.“
„Der, der Euch einst nachstellte, ist tot, nicht wahr?“, fragte Heléne Griffon unvermittelt. Johannes war verblüfft. Woher wusste diese Frau davon? „In der Tat, so ist es“, antwortete er zögernd. „Doch woher ..?“ Heléne hob die Hand. „Ihr habt noch einen weiten Weg vor Euch, Frère Johannes. Andere Herausforderungen und vielerlei Gefahren warten.“


Der Edelmann richtete sein Augenmerk auf Felipe. „Wer seid Ihr und warum begleitet Ihr den Pilgermönch Johannes?“ Felipe antwortete nicht sogleich, sondern starrte ausdruckslos vor sich hin, als habe er die Frage nicht gehört. Dann richtete er seine dunklen Augen auf De Manuel und sagte: „Mein Name ist Felipe Montez. Ich stamme aus dem Dorf Ortiguera in Galicien. Ich bin Schiffszimmermann und gelangte durch … Umstände, die keiner Erwähnung bedürfen, in die eidgenössische Bergwelt. Nun reise ich mit dem Mönch und seinen Gefährten, um in meine Heimat zurückzukehren.“
„Ein Schiffszimmermann aus Galicien inmitten von Frankreich, der aus der Eidgenossenschaft, bestehend aus Uri, Schwyz und Nidwalden, kommt. Doch liegt diese fernab der Meere. Dies ist in der Tat bemerkenswert, nicht wahr?“ Die spöttische Stimme von Magister André durchschnitt den Saal. Der Falke auf De Manuels Handschuh schlug aufgeregt mit den Flügeln. Der Chevalier maß seinen Medicus mit einem strengen Blick. Dieser senkte die Augen und murmelte etwas Unverständliches.


„Nun, es ist bedauerlich, dass Ihr zurück in Eure Heimat strebt“, sagte der Edelmann. „Ein guter Zimmermann ist in der Tat jemand, den wir hier sehr wohl gebrauchen könnten. Geht in Euch und überlegt, ob Ihr nicht hier bleiben wollt. Es soll Euer Schaden nicht sein.“ Er griff in die Schüssel, die neben ihm stand und gab dem Greifvogel ein Stückchen Fleisch. Felipe deutete eine Verbeugung an. „Euer Angebot ehrt mich, Señor. Doch spüre ich den Ruf der Heimat zu sehr, als dass ich hier verweilen könnte.“ Er warf einen dunklen Blick auf den Medicus.


Die Türe des Saales öffnete sich und ein Diener trat herein, der auf einem fein gehobelten Brett zwei Krüge und einige Becher trug. Er verbeugte sich, ging durch den Saal zu seinem Herrn und wiederholte die Geste. De Manuel bedeutete ihm, die Becher zu füllen. Nachdem der Edelmann, seine Gemahlin und der Magister je einen Rebensaft erhalten hatten, wurden auch Johannes und seine Gefährten bedient. Nur der Kaplan erhielt keinen Wein. Der Chevalier hob den Becher und trank. Alle folgten seinem Beispiel.
Nachdem jeder getrunken hatte, fiel der Blick des Edelmanns auf Hubertus. „Es ist nun an Euch, zu schildern, wer Ihr seid, woher Ihr kommt und was Euch zu dieser Pilgerfahrt bewegt hat.“ Hubertus‘ Augen funkelten. Es war ihm zutiefst zuwider, von hohen Herren wie vor einem Gericht ausgefragt zu werden. Doch wusste er ebenso, dass er zumindest ein wenig aus seinem Leben preisgeben musste. Mit ruhiger Stimme und festem Blick erzählte er in knappen Worten von seinem Leben als Seemann und als Troubadour sowie den Erlebnissen, die ihm auf seinen Reisen widerfahren waren. Er berichtete, wie er Johannes und Irmingard kennengelernt hatte, wie sie einander beigestanden hatten und welche Gefahren sie im vergangenen Jahr in Geisenfeld und danach gemeistert hatten. Er schilderte seine Heirat mit Irmingard und erzählte von den Geschehnissen im Engelberger Tal.
Der Edelmann und sein Medicus schüttelten oftmals ob dieser Worte ungläubig den Kopf. Der Kaplan hielt ein ums andre Mal verblüfft mit dem Schreiben inne, um gleich darauf umso schneller die Worte aufs Pergament zu bringen.


Als Hubertus geendet hatte, herrschte für einen Moment Schweigen. „Ihr seid ein Mann mit erstaunlichen Talenten und Fähigkeiten“, sagte der Chevalier schließlich. „Dazu kommt große Erfahrung. Ein unstetes Leben, so dünkt mir, war bisher das Eure. Doch nun, da Ihr verheiratet seid, gedenkt Ihr nicht, dereinst mit Eurem Weib sesshaft zu werden?“
„Dies ist mein Ziel, wenn die Pilgerfahrt zu Ende ist“, bestätigte Hubertus. „An den Küsten des Nordens, wo meine Heimat liegt, möchte ich mich niederlassen.“
De Manuel nickte nachdenklich. Hubertus bemerkte unterdessen, dass Heléne Griffon ihn aufmerksam beobachtete. Er erwiderte den Blick und erstarrte. Ihm war, als schaute die Gemahlin des Edelmanns direkt in seine Seele, als würde sein Innerstes vor ihr offenbar. Hubertus konnte ihren durchdringenden Augen nicht ausweichen. Kaum wagte er zu atmen. ‚Sie weiß alles!,‘ durchfuhr es ihn. ‚Wie kann das angehen?‘ Der Schweiß brach ihm aus und es schien ihm, als würde sie sogleich sein Todesurteil verkünden. Doch Heléne sagte kein einziges Wort, verzog keine Miene. Nach einer kurzen Weile, die Hubertus jedoch wie die Ewigkeit vorkam, hob sie ihren Becher und setzte ihn an den Mund, ohne die Augen von ihm zu lassen. Dann erst wandte sie ihren Blick ab, um Irmingard zu mustern. Hubertus wurde nun gewahr, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte.
„Ist Euch nicht wohl, Hubertus?“, fragte der Magister. Hubertus atmete tief aus und verneinte. „Es ist nichts, habt Dank“, antwortete er und bemühte sich um einen leichten Ton, obwohl sein Herz bis zum Halse schlug.


Er war zutiefst erleichtert, als De Manuel sich Magdalena zuwandte. „Auch Ihr reist in Begleitung des Pilgermönchs. Daher seid auch Ihr wie alle Gefährten des Frère willkommen in meinem Hause. Bitte sagt mir, wie Euer Name ist und was Euch bewegt hat, die lange und gefahrvolle Reise nach Santiago auf Euch zu nehmen.“ Erwartungsvoll beugte sich der Chevalier vor.
Magdalena aber zögerte keinen Augenblick. Sie richtete ihre Augen auf die Gemahlin des Edelmanns und sagte mit fester Stimme: „Ich bin Magdalena von Falkenfels, Tochter des Ritters Rudolf von Falkenfels. Mein Vater verlor vor Jahren all seine Besitztümer, als sein Nachbar mit ihm in Fehde geriet. Nach dem Schwur der Urfehde blieb meinem Vater nicht mehr als sein Streitross, zwei unmündige Töchter und das, was er am Leibe trug. Er verdingte sich später in den Diensten des Herzogs Stephan von Baiern in Ingolstadt, bis er von einem Erkundungsritt nicht mehr zurückkehrte. Meine geliebte Schwester und mich hatte er zuvor im Benediktinerinnenkloster zu Geisenfeld dargebracht. Dort lernte ich die Heilkunst. Ich lernte, den Menschen zu helfen. Theresia hat in Geisenfeld ihre Heimat gefunden.“ Sie richtete ihre Augen auf Johannes. „Ich indes nehme die Reise auf mich, weil ich diesen Mann, Johannes, von ganzem Herzen liebe. Ich liebe ihn, seit ich ihm vor sieben Jahren zum ersten Mal in Coburg begegnete. Weder Verschwörungen und Intrigen in Geisenfeld, wegen derer ich schließlich zum Konvent nach Engelberg in die Abgeschiedenheit der eidgenössischen Berge gebracht wurde, noch die Todesgefahren, denen Hubertus, er und ich dort ausgesetzt waren, konnten uns trennen.“ Wieder sah sie Heléne an. „Gott hat uns ein ums andre Mal zusammengeführt, trotz aller Widrigkeiten. Und ich werde Johannes folgen und ihm beistehen, wohin immer auch sein Weg führen mag.“


In der darauf folgenden Stille hätte man eine Nadel fallen hören. Johannes drückte wortlos die Hand der geliebten Frau. Das Gesicht von De Manuel war wie eingefroren. Sogar Magister André hatte sein spöttisches Lächeln verloren. Kaplan Roger war bei diesen Worten ebenfalls erstarrt. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Empörung und Abscheu ab. Er tauchte hastig die Feder ins Fass, um die Worte Magdalenas festzuhalten.
Heléne Griffon indes hob abermals die Hand. „Haltet ein, Frère Roger. Diese Worte sind nicht dazu bestimmt, niedergeschrieben zu werden. Und lasst Eurer Empörung keinen Raum. Gott, unser HERR, schützt die, die aufrichtig lieben.“ Der Kaplan biss sich auf die Lippen, folgte aber widerstrebend der Anweisung von Heléne.
Diese schenkte Magdalena einen warmen Blick. „Ihr habt ein aufrechtes Herz, Magdalena von Falkenfels, mehr Mut als viele tapfere Ritter und ihr tragt weitaus mehr Liebe in Euch, als Ihr selbst wisst. All dies werdet Ihr brauchen, denn auch auf Eurem Weg steht Euch noch manche Prüfung bevor.“ Sie hielt inne. Für einen Augenblick schien es, als horche sie in sich hinein. Sie erblasste. Mit gefasster Stimme fuhr sie fort: „Die Gefahr ist näher als Ihr denkt. Schon hat das Böse seine Hand nach Euch ausgestreckt. Doch bin ich gewiss, dass Ihr hier in Sicherheit seid.“
In Magdalena stieg bei den Worten der Edelfrau Angst hoch. Was meinte die Gemahlin des Chevaliers damit? Hilfesuchend schaute sie zu Johannes, der genau so besorgt schien.
Irmingard war während der Audienz zunehmend unruhiger geworden. Je länger diese dauerte, desto mehr gewann sie den Eindruck, dass Heléne Griffon nicht nur eine ausnehmend schöne und kluge Frau war, sondern Dinge aussprach, von denen sie gar nichts wissen konnte. War es das, was der Wirt in Chavanay gegenüber Hubertus nicht zu erzählen gewagt hatte?


Irmingard holte verstohlen tief Luft. Schon seit Beginn der Audienz litt sie an einem Engegefühl in der Brust, verbunden mit zunehmender Atemnot. Sie nahm einen Schluck Wein aus ihrem Becher, doch dieser verschaffte kaum Linderung. Als sie bemerkt hatte, wie Heléne Hubertus angeschaut hatte, war ihr unbehaglich geworden. Was sah die Edelfrau, das ihr selbst verborgen blieb? Als der Blick von Heléne zu Irmingard gewandert war, hatte sie sich nervös über die Lippen geleckt und ein hilfloses Lächeln versucht. Dies war jedoch unerwidert geblieben.
Ein leises Kribbeln auf der Haut ließ in Irmingard Angst hochsteigen. War es das Gefühl, das sie bisher nur des Nachts heimgesucht hatte? Sie schluckte krampfhaft. Die Hand mit dem Becher zitterte. Die Worte, welche die Gemahlin von De Manuel an Magdalena gerichtet hatte, hatte sie nur verzerrt wahrgenommen. Das Kribbeln wurde stärker und breitete sich von ihrer Brust langsam über ihren ganzen Körper aus.
Wie durch einen Nebel sah sie, dass die Edelfrau sie musterte. Konnte es sein, dass diese noch blasser geworden war? Verwirrt bemerkte Irmingard, dass Heléne mit weitgeöffneten Augen Anstalten machte, sich zu erheben. „Irmingard! Irmingard, das Böse hat euch bereits berührt. Haltet Stand und gebt ihm nicht nach! Magister André, steht dem Weibe bei!“ Irmingard sah, dass die Edelfrau ihre Flügel ausbreitete, auf den Tisch hüpfte und von dort auf sie zuflog. Glöckchen klangen schrill in ihren Ohren. Abwehrend hob sie den Arm und sah zu ihrer Verblüffung, dass dieser mit einem rauen Fell überzogen war. Die Gestalten von De Manuel und dem Medicus wuchsen bis zur Decke des Saales in die Höhe. Der Wanderfalke auf dem Arm des Edelmanns riss den Schnabel auf und stieß fauchend eine Flamme aus. Irmingard sah mit Schrecken, dass der Kaplan sein Tintenfass nahm und nach ihr warf. Sie wollte ausweichen und neigte sich zur Seite. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte rücklings von der Bank. Rotwein spritzte über den Boden. Der Greifvogel, in den sich Heléne verwandelt hatte, setzte sich auf ihre Brust. Irmingard sah, wie der scharfe Schnabel auf ihr Gesicht herabschnellte. Ein Schrei entfuhr ihr, dann umfing sie Dunkelheit.


                                                                                   *


Band IV: Im Dunkel des Grabes

Leseprobe 1:

Golgatha, unweit von Jerusalem, im Herbst des Jahres 44 nach Christi Geburt
Die Sonne, die während des Tages unbarmherzig vom Himmel gebrannt hatte, neigte sich nun auf ihrer Bahn. Hatte gegen Mittag noch flirrende Hitze in Jerusalem geherrscht, so fegte nunmehr ein kalter Wind durch die Gassen. Wolkenfetzen flogen über den Himmel und verdichteten sich allmählich zu einer immer dunkleren Masse. Aus der Stadt heraus bewegte sich eine Menschenmenge den steilen Anstieg hinauf zur Richtstätte, die auf einem Höhenkamm lag. Golgatha, Schädelstätte, so hieß der Ort. Verbrecher wurden hier gerichtet; Mörder, aber auch die Feinde der römischen Besatzer und ihrer Statthalter vor Ort. Herodes Agrippa, der König, der als Marionette Roms eine strenge Herrschaft ausübte, hatte gerade zuvor über einen der Feinde des Imperiums sein Urteil gesprochen. Einen Aufruhr gegen die Besatzungsmacht, so hieß es, habe der Mann angezettelt, kaum dass er von jahrelanger Reise zurückkehrt war. Nach einer Rede war er verhaftet und vor den König gebracht worden. Dort hatte ihn Abiathar, der Hohepriester dieses Jahres, beschuldigt, als Rädelsführer des Aufstands den König von Judaea stürzen und an seiner Statt den Thron besteigen zu wollen. Ein Reich im Namen von Jesus von Nazareth, der vor gut einem Dutzend Jahren als Verbrecher gekreuzigt worden war, habe er errichten wollen. Nach kurzem Prozess hatte ihn der König zum Tod durch das Schwert verurteilt.


Nun schritt der Hohepriester, ein hochgewachsener Mann in kostbarem schwarzem, mit Goldstickereien verzierten Ornat, der Menge voran. Mit verächtlich geschürzten Lippen stieg er den steilen Weg bergan. Abiathar war im Volk der Juden als Hohepriester geachtet, aber auch gefürchtet. Mit silbergrauem Vollbart und dunklen Augen, die jedem Betrachter tief in die Seele zu blicken schienen, war er eine beeindruckende Erscheinung. Wenn er mit volltönender tiefer Stimme seine zürnenden Predigten hielt, verstummten alle.
Abiathar war mit sich zufrieden, während er zur Schädelstätte hinaufstieg. Die Verhandlung bei Herodes Agrippa war so verlaufen, wie er es sich gewünscht hatte. „Dieser Mann, ein eifernder Anhänger von Jesus, dem verbrecherischen Aufrührer, predigt wie vormals der selbsternannte Menschensohn!“, hatte der Hohepriester ausgerufen. „Er lästert den HERRN!“ Als König Herodes den Angeklagten gefragt hatte, was dieser zu seiner Verteidigung vorbringen wolle, hatte der Mann seine Augen auf den König gerichtet. „Schon Jesus von Nazareth, unser Erlöser, hat verkündet, dass das Reich Gottes angebrochen ist. Du, Herodes, musst es nur erkennen. Doch bist du blind für die Güte und Menschenliebe Gottes. Nur Gott allein ... “ Ein Soldat hatte dem Angeklagten auf einen Wink des Königs einen kräftigen Schlag mit einem Stock in die Kniekehlen versetzt, so dass der Mann zu Boden gesackt war. Dann hatten sich auf ein weiteres Zeichen des Regenten ein halbes Dutzend Häscher über ihn hergemacht und ihn mit Faustschlägen und Knüppeln traktiert. Der Mann aber hatte sich nicht gewehrt und auch keinen Klagelaut ausgestoßen. Als die Bewaffneten von ihm abgelassen hatten, war er blutüberströmt und reglos am Boden gelegen. Abiathar indes hatte den König erwartungsvoll angeschaut.


Herodes Agrippa hatte das Urteil gesprochen und seinen Soldaten mit einer verächtlichen Handbewegung bedeutet, den Angeklagten sogleich zur Hinrichtungsstätte zu bringen, während es Abiathar nur mühsam gelungen war, seinen Triumph zu verbergen. Wieder würde einer der treuesten Anhänger des Mannes aus Nazareth von der Erde getilgt werden. Die Lehre, die diese Apostel, wie sie sich nannten, im Namen ihres toten Anführers verkündeten, war gefährlich. Wie hatte dieser Jesus neben vielem Anderem gesagt? „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Unerhört! Eine gefährliche Konkurrenz für das Priestertum war hier erwachsen, die mit allen Mitteln vernichtet werden musste. Der Todgeweihte mit Namen Jakobus, der nun hinter ihm inmitten der Soldaten schritt, war einer der Gefährlichsten. Boanerges, Donnersöhne, so hatte Jesus ihn und seinen Bruder, einen weiteren Apostel namens Johannes, genannt. Dieser aber hielt sich mit den anderen Anhängern Jesu irgendwo versteckt. Doch auch ihm würden sie habhaft werden, daran bestand kein Zweifel.


Hinter dem Hohepriester folgte der Scharfrichter, ein kräftiger Mann mit Namen Marcellus, der ein langes scharfes Schwert trug, mit dem er die Todesurteile zu vollstrecken pflegte. Dahinter ging Josia, ein Knecht Abiathars, und führte den verurteilten Apostel, der einen Strick um den Hals, geschlungen hatte, wie ein Lamm zur Schlachtbank. Immer wieder sah er zu dem Todgeweihten um. Abiathar, der dies bemerkte, runzelte argwöhnisch die Stirn. Es war ihm, also suche Josia die Augen des Verurteilten. Dieser erwiderte den Blick. Und noch etwas dünkte dem Hohepriester eigenartig. Jakobus schlich, obwohl ihn der sichere Tod erwartete, keineswegs demütig hinter Josia her. Auch schienen ihn die Schläge der Häscher nicht ernsthaft verletzt zu haben. Mit wachen Augen, die aus dem geschundenen vollbärtigen Gesicht blitzten, schritt er aufrecht zwischen seinen Bewachern. Diese, an jeder Seite fünf an der Zahl, gingen in voller Rüstung, die Lanzen stolz erhoben.


Dem Zug hatten sich schon in den Gassen von Jerusalem ein paar Neugierige angeschlossen. Zunächst war es nur eine Handvoll Menschen gewesen. Doch nach und nach war die Menge größer geworden, bis sie auf mehrere Dutzend angewachsen war. Tagelöhner waren darunter, Kinder und Waschweiber, aber auch angesehene Bürger mit ihren Frauen. Sie folgten alle dem Tross der Bewaffneten. An der Spitze der Menge aber ging eine Frau mittleren Alters mit langen braunen lockigen Haaren, dunklen warmen Augen und feingliedrigen Händen. Unter den fließenden hellen Kleidern ließ sich ihre anmutige Gestalt nur erahnen. Zwei stämmige Männer mit sorgenvollen Gesichtern, die jeweils von kurzgeschnittenen Vollbärten umrahmt waren, folgten ihr. Während die Bewaffneten wortlos marschierten, hatte zunächst unter der Menge, die der Frau und ihren beiden Begleitern folgten, lebhaftes Stimmengewirr geherrscht. Eine Hinrichtung war immer eine willkommene Abwechslung im eintönigen Alltag. Wie mochte sich der Verurteilte verhalten? Würde er um sein Leben betteln? Würde er jammern, wehklagen oder sich mutig in sein Schicksal fügen? Wetten wurden abgeschlossen und manches Gelächter erklang. Doch je weiter sich der Zug bewegte, desto leiser wurden die Stimmen. Besorgte Blicke wurden zum Himmel geworfen, der sich immer mehr verdunkelte. Bedrohlich jagten die schweren Wolken dahin und einer der Neugierigen meinte, so tief und drohend habe er den Himmel seit Jahren nicht mehr gesehen. „Als Jesus von Nazareth gekreuzigt wurde, da war es auch so. Zur neunten Stunde schien es, als breche die Nacht herein. Blitze zuckten, als der Prediger starb. Oh, ...!“ Er hielt sich die Hand vor Augen, denn eine Windhose fegte über den steilen Pfad und blies dem Hohepriester, den Bewaffneten und der nachfolgenden Menge Sand in die Gesichter. Lautes Husten, gemischt mit Flüchen und Verwünschungen ertönten.
Um den Todgeweihten hingegen schienen die umherwirbelnden Sandkörner eigenartigerweise einen Bogen zu machen. Dessen wache Augen schienen zu leuchten. Er drehte sich um und wechselte mit der schönen dunkelhaarigen Frau einen Blick. Auch sie und ihre zwei Begleiter wurden vom Sand verschont. Die Frau breitete die Arme wie zum Gebet und verzog ihren Mund zu einem schmerzlichen Lächeln.


Nur wenige Schritte, bevor der Zug die Anhöhe der Schädelstätte erreicht hatte, ertönte am Wegesrand die flehentliche Stimme eines stadtbekannten Lahmen. Er war vor Jahren als unverheirateter junger Mann bei Bauarbeiten am Palast des Königs aus großer Höhe gestürzt und konnte seitdem nicht mehr laufen. Kriechend bewegte er sich voran und bestritt seinen Lebensunterhalt durch Betteln. Er bezog seinen Posten vornehmlich dort, wo er sich die größten Einnahmen erhoffte. Auf dem Weg nach Golgatha war er oft unweit der Stadttore zu finden. So weit oben aber wie dieses Mal hatte man ihn noch nie gesehen. Jetzt rief er: „Hab Erbarmen mit mir, Apostel Jakobus! Meine Beine vermögen mich seit vielen Jahren nicht zu tragen. Meine Kraft schwindet dahin! Hilf mir in meiner Not!“ Während Josia achtlos an dem Bettler vorbeiging, blieb der Angesprochene sogleich stehen. Die Schlinge des Stricks, der um Jakobus´ Hals geschlungen war, zog sich zusammen. Doch kein Laut des Schmerzes kam über die Lippen des Apostels. Josia blieb verwundert stehen, als sich der Strick in seiner Hand straffte. Er zog seinen Dolch und erhob ihn drohend in der Annahme, der Todgeweihte wolle fliehen. Als er aber sah, dass sich der Apostel zu dem Lahmen beugte, der ihm seine Hände bittend entgegenstreckte, ließ er wieder locker. Der Verurteilte legte dem Lahmen nun die rechte Hand auf die Stirn und sagte leise: „Im Namen des allmächtigen Gottes und seines wahrhaftigen Sohnes Jesus: Stehe gesund auf und preise Deinen Schöpfer!“ Kaum hatte der Apostel diese Worte gesprochen, so weiteten sich die Augen des Lahmen voller Überraschung. Zum Erstaunen der Menge, die den Zug begleiteten, begann er, langsam seine Beine zu strecken. Ein ungläubiges Aufseufzen ging durch die Menge. Der Mann wälzte sich auf die Knie und erhob sich schwankend. Ungelenk noch auf den schwachen, zitternden Beinen, starrte er zunächst nach unten, als könne er selbst nicht glauben, dass er ohne Hilfe aufgestanden war. Dann schaute er mit tiefer Ehrfurcht den Todgeweihten an, faltete seine Hände und verbeugte sich tief: „Gott hat mir durch Dich meine Gesundheit wiedergegeben! Ehre sei Gott in der Höhe!“ Er wandte sich an die Menschen, die den Bewaffneten folgten und rief: „Preiset den HERRN! Preiset ihn um seiner Barmherzigkeit und Nächstenliebe willen! Ich kann wieder laufen!“ Er taumelte an der Menge vorbei. Unsicher zuerst, doch dann immer schneller, rannte er den Pfad hinunter nach Jerusalem. Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich. Manche der Neugierigen falteten die Hände und schauten zum Himmel. Nur die anmutige Frau und ihre Begleiter schienen nicht überrascht.


Josia hingegen machte große Augen. Ungläubig sah er von seinem Gefangenen zu Abiathar, dessen Gesicht rot vor Zorn angelaufen war. Dann ließ er den Strick los, schleuderte seinen Dolch hinweg und warf sich dem Apostel zu Füßen. „Ich bitte um Gnade vor Gott, Jakobus! Verzeih mir meine Sünden! Ich glaube an Gott, den Allmächtigen und an Jesus von Nazareth, seinen Sohn!“ Abiathar aber eilte sogleich herbei und gab den Bewaffneten einen Wink. Der Scharfrichter ergriff den Strick, den Josia losgelassen hatte und zerrte ruckartig daran, so dass Jakobus zu Boden gerissen wurde.
Abiahtar beugte sich zu Josia und packte ihn am Haarschopf. „Sieh mich an!“, sagte er drohend. Er drehte Josias Kopf zu dem Apostel. „Dies hier ist nur ein Mensch, der im Staub liegt. Ein Hochverräter des Landes Judaea, ein Anhänger der verfluchten Lehre. Wenn Du, Josia, dem Namen Jesus von Nazareth nicht sogleich fluchst, wirst Du zusammen mit dem Aufrührer Jakobus enthauptet werden!“ Josia schwieg einen Moment. Dann sah er Abiathar in die Augen und antwortete: „Hast Du nicht gesehen, was die Gnade und Barmherzigkeit Gottes vermag? Du aber predigst nur einen zürnenden und rächenden Gott. Du selbst und alle Deine Tage sollen verflucht sein. Der Name Jesus aber sei gepriesen in Ewigkeit!“ Abiahtar erstarrte ob dieser Worte. Dann schlug er Josia mit der geballten Faust ins Gesicht, dass dessen Nase mit einem vernehmlichen Knacken brach und das Blut umherspritzte. Keuchend richtete sich der Hohepriester auf. Er winkte den Soldaten. „Schlagt ihn!“ Vier der Bewaffneten stürzten sich auf den Unglücklichen und prügelten ihn, bis er regungslos im Staub lag. Blut floss aus seinen Wunden und sickerte in den Sand. Die übrigen Soldaten hielten ihre Lanzen drohend auf die Menge gerichtet. Niemand wagte einzugreifen.


Unterdessen hatte der Wind an Stärke zugelegt. Heulend strich er über die Felsen. Auch war es deutlich kälter geworden. Abiahtar rief: „Es ist Zeit, das Urteil zu vollstrecken! Eilt Euch!“ Der Scharfrichter zog fluchend am Strick. Keuchend und würgend erhob sich der Gefangene mühsam. Auch der leblose Josia wurde von zwei Soldaten hochgezogen und zur Hinrichtungsstätte geschleppt. Inmitten eines großen baumlosen kreisförmigen Platzes, der von hohen Felsen umgeben war, ragten drei mächtige Pfähle auf, die mit vertrocknetem Blut getränkt waren. Auch der gestampfte Boden wies zahllose rostrote Flecken auf. Im Schatten der Pfähle löste der Scharfrichter den Strick, der um den Hals des Apostel hing. Tiefe blutunterlaufene Striemen legten Zeugnis davon ab, wo das Seil den Verurteilten gepeinigt hatte.
„Wer zuerst?“ fragte er den Hohepriester. Abiathar wies auf Josia. „Dieser Wurm soll als Erster in den Staub!“ Die zwei Soldaten ergriffen die Arme des Unglücklichen und setzten ihn auf. Da erklang die Stimme von Jakobus. „Scharfrichter, ich erbitte Wasser.“ Der Scharfrichter, verwundert, dass Jakobus noch so deutlich sprechen konnte. sah Abiathar an. Dieser schaute zu Jakobus, dann zuckte er mit den Achseln. „Der letzte Wunsch sei ihm gewährt.“ Der Scharfrichter nahm eine kleine Amphore, die er an einem geflochtenen Lederriemen um den Leib geschlungen hatte, erbrach den wächsernen Verschluss und reichte sie dem Apostel. Dieser schüttete etwas Wasser in die Innenfläche seiner rechten Hand, wandte sich an Josia und sagte: „Josia, sieh zum Pfahl, der in der Mitte steht.“ Josia folgre der Aufforderung und richtete seine beinahe zugeschwollenen Augen darauf. Jakobus aber goss, noch bevor die Soldaten eingreifen konnten, das Wasser auf die Stirn von Josia und rief mit lauter klarer Stimme: „An dieser Stelle, an der unser Erlöser für unsere Sünden gestorben ist, taufe ich Dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!“


Sogleich schlug ihm ein Soldat mit seiner Lanze die Amphore aus der Hand und trat ihm in die Seite, so dass er zu Boden fiel. Ein anderer Bewaffneter hielt ihm die Lanzenspitze an die Kehle. Josia aber hatte sein angeschwollenes Antlitz auf den Mittleren der Pfähle gerichtet.
„Töte ihn!“ Der Befehl von Abiathar war kaum ausgestoßen, schon rollte das Haupt von Josia im Sand. Die Soldaten, die noch immer die Arme des kopflosen Rumpfes hielten, hatten Mühe, den zuckenden Korpus zu halten. Schnell aber erschlaffte er und die Bewaffneten ließen ihn achtlos fallen.
Ein Raunen ging durch die Menge. Der Wind steigerte sich zur Sturmstärke. Nun zuckten auch Blitze zwischen den schwarzen Wolken und erstes Donnergrollen ertönte. Einige der Neugierigen zogen es vor, sich mit angstvollen Blicken zum Himmel eilends auf den Rückweg zu machen. Die anmutige Frau aber und ihre Begleiter waren wie versteinert stehen geblieben, die Augen fest auf das Geschehen gerichtet.


„Nun er!“ Abiathar hob den Arm und zeigte auf Jakobus. Dieser schüttelte die Soldaten ab, die nach ihm greifen wollten. Er kniete sich auf den Boden, faltete die Hände und sah zum schwarzen, drohenden Himmel. „Herr, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Kaum waren die Worte im Heulen des Windes und Grollen des Donners zu verstehen.


Ein schneller kräftiger Hieb mit dem Schwert und der Kopf des Apostels fiel zu Boden. Im selben Moment erlosch der Sturm. Kein Windhauch mehr war zu spüren; alles war totenstill. Die Menge stöhnte erschrocken auf. Ungläubige Blicke wanderten hin und her. Plötzlich zuckte ein gewaltiger Blitz vom Himmel und schlug inmitten der Schergen auf dem Boden ein. Die Bewaffneten wurden durch die Wucht des Einschlags hinweg an die nahen Felsen geschleudert. Abiathar aber, der dem Blitz am nächsten gestanden hatte, blieb für einen Augenblick stehen, als sei er wie Lots Weib viele Generationen zuvor zur Salzsäule erstarrt. Dann verzerrte sich das Gesicht des Hohepriesters in tiefstem Entsetzen und er riss den Mund auf, als wolle er schreien. Doch statt eines Rufs schoss ein Feuerschwall aus dem weit geöffneten Rachen. Abiathars Körper erbebte. Dichter schwarzer Rauch stieg aus seinen prächtigen Kleidern auf. Einen Augenblick später stand der Hohepriester zur Gänze in Flammen. Jetzt erst ertönte ein schriller Laut, einer menschlichen Stimme kaum ähnlich. Unsagbares Entsetzen erfasste die Neugierigen. Krachender Donner übertönte die Schreckensrufe der Zuschauer. Die Menge wich heulend vor Angst vor der menschlichen Feuersäule zurück, die jetzt auf sie zu taumelte.
Dann aber blieb der Todgeweihte stehen. Verzweifelt reckte der Hohepriester die Hände zum Himmel, wo noch immer Blitze zuckten. Er schrie vor Schmerzen, doch der fortwährende Donner übertönte ihn. Der lichterloh brennende Abiathar wankte noch ein paar Schritte, drehte sich um die eigene Achse und brach zusammen. Wer aber nun erwartet hatte, dass die Flammen noch einmal auflodern würden, sah sich getäuscht. Die Gestalt des Hohepriesters fiel in sich zusammen, das Feuer erlosch und dichter schwarzgrauer Qualm stieg auf. Als sich der Rauch verzogen hatte, war an der Stelle, an der sich die Überreste des Toten befinden sollten, nur ein großer dunkler Fleck auf dem Boden zu sehen, der durchdringend nach Schwefel stank.


Die anmutige Frau sank auf die Knie, die Augen auf den mittleren der Pfähle gerichtet, und begann zu beten. Ihre zwei Begleiter taten es ihr gleich.
Alle anderen aber wurden vollends von blankem Entsetzen erfasst. Die ersten Zuschauer eilten sich, schreiend zu fliehen und sogleich schlossen sich alle anderen an. Nur fort von hier! Weg von diesem Ort, an dem der allmächtige Gott wahrhaftig die Hinrichtung des Apostels gesühnt hatte! Die Menge floh Hals über Kopf, so schnell sie konnte, zurück zur Stadt.
Auch die Bewaffneten, die sich schmerzverzerrt gemüht hatten, wieder auf die Beine zu kommen, hatten das Ereignis, erfüllt von tiefstem Schrecken, verfolgt. Sie ließen ihre Waffen fallen und rannten oder humpelten den Fliehenden nach. Der Scharfrichter aber lehnte mit weit aufgerissenen Augen tot an einem Felsen, von seinem eigenen Schwert durchbohrt. Eine große Blutlache breitete sich unter ihm aus. Langsam verhallte der Donner.
Als an der Richtstätte Stille eingekehrt war, stand die Frau wieder auf. Sie schaute zum Himmel. Die schweren dunklen Wolken hatten sich verzogen. Nur noch wenige graue Fetzen jagten über das blaue Firmament. Die Frau ließ ihren Blick über die Hinrichtungsstätte gleiten. Sie ging zum Leichnam des Josia, nahm den Kopf, der einige Ellen neben dem Korpus lag und legte ihn vorsichtig an den verstümmelten Körper. Sie zeichnete daneben mit dem Finger die Silhouette eines Fisches in den Sand, dann richtete sie sich wieder auf.
Mittlerweile waren auch die beiden Männer aufgestanden. Sie traten zum Leichnam des Apostels und starrten voller Trauer auf den Enthaupteten.


Die Frau wandte sich den Männern zu. „Theodorus! Athanasius!“ Die beiden Männer blickten auf. Die Frau zeigte auf den toten Jakobus. „Tut es mir gleich“, sagte sie mit sanfter, dunkler Stimme. Theodorus und Athanasius taten, wie ihnen geheißen. Sie hoben den Kopf des Apostels auf und legten ihn an den Rumpf, so dass ein flüchtiger Beobachter kaum erkennen mochte, dass der Jünger Jesu enthauptet worden war.
Die Frau kniete sich neben den Toten, legte ihm die Hand auf die Brust und richtete ihre Augen zum Himmel. Leise, so dass ihre Begleiter die Worte nicht verstehen konnten, sprach sie: „Barmherziger Gott, ich bete zu Dir. Ich habe deinem Sohn, dem Mann aus Nazareth mit meinen Tränen die Füße gewaschen, sie mit meinen Haaren getrocknet und gesalbt mit kostbarem Öl. Er vergab mir all meine Sünden. Er heilte meine Schwester und erweckte meinen Bruder von den Toten.“ Für einen Augenblick hielt sie inne, bevor sie weitersprach. „Ich sah, wie ihn die Häscher an das Querholz schlugen, hinaufzogen und kreuzigten; wie der Hauptmann Longinus mit der Lanze seine Seite durchstach. Ich stand vor seinem leeren Grab und mir erschien er nach seiner Auferstehung. All das ist viele Jahre her. Ich habe erlebt, wie seine Apostel verfolgt wurden. Ich sah, wie Furcht und Vertreibung das Land Judäa überzogen. Und nun habe ich den Tod eines seiner treuesten Jünger gesehen. Der Tag ist nahe, da viele von ihnen das Martyrium erleiden. Diejenigen, die überleben, werden in alle Winde verstreut.“ Sie zögerte. „Ich fühle, der Tag ist nahe, da auch ich von hier ziehen werde, gen Westen. HERR, weise mir Deinen Weg und gib mir auf, was zu tun ist.“ Sie schloss die Augen, als lausche sie einer Stimme, die nur sie zu hören imstande war. Dann nickte sie gehorsam. Gespannt sahen die beiden Männer sie an.


Die Frau erhob sich und ließ ihren Blick zum Horizont schweifen, wo sich im Westen die untergehende Sonne im Meer spiegelte. Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. In einer kleinen Bucht schienen sich die Strahlen der Sonne zu bündeln. Es war, als lodere auf den Wellen ein Feuer.
Sie hob den Arm und zeigte auf die Bucht. Die Augen von Theodorus und Athanasius folgten ihr. „Der Scharfrichter soll den Hunden überlassen werden, die des Nachts hierher kommen. Den Leib des Josia begrabt hier abseits der Schädelstätte und betet für ihn. Heute Nacht aber, nach Einbruch der Dunkelheit, bringt die sterbliche Hülle des Jakobus in diese Bucht dort. Ein Schiff wird Euch erwarten. Fragt nicht, wer es steuert. Fragt nicht, wohin es segelt. Vertraut auf den HERRN. Wo das Schiff nach langer Fahrt anlandet, wird ein Karren stehen, vor den Stiere eingespannt sind. Ladet den Leib des Apostels darauf und fahrt damit ins Landesinnere. Lasst Euch nicht durch Verwicklungen und böse Befehle von Königinnen oder anderen Despoten in die Irre führen. Folgt unentwegt eurer Bestimmung. Wo die Stiere keinen Huf mehr vor den anderen setzen, da hebt ein Grab für Jakobus aus. Kleidet es mit dem Marmor aus, den Ihr dort finden werdet. Bestattet ihn darin und bewacht fortan seine Ruhestätte. Denn ihr werdet nicht zurückkehren, Eure Heimat nicht wiedersehen.“ Die beiden Männer blickten bestürzt drein. Einer wollte etwas erwidern, doch die Frau machte eine beruhigende Geste. „Habt keine Furcht, was immer Euch auch widerfahren mag. Gott wird Euch schützen. Geht hin in Frieden.“
Theodorus und Athanasius sahen die Frau ergriffen an. Dann sanken sie auf die Knie und neigten ihre Häupter zum Zeichen der Zustimmung. „Der HERR hat durch Dich gesprochen, Apostelin aller Apostel“, sagte Theodorus. „Wir werden alles tun, wie es bestimmt ist.“
Die Frau sah von einem zum anderen. Dann schenkte sie ihnen ein wehmütiges Lächeln und hob die Hand zum Abschied. Sie wandte sich gen Jerusalem und schritt langsam davon. Und als die beiden Männer ihr nachschauten, da schien es ihnen, als sei die Jüngerin von einem eigentümlich warmen Licht umgeben.


Leseprobe 2:

9. Juli 1391, Navarrenx
Die Messe in der Kirche Saint-Germain war vorüber. Die Gläubigen strömten aus dem Gotteshaus. Manche von ihnen sammelten sich abseits des Kircheneingangs und hielten ein Schwätzchen, tuschelten über das Aussehen und Gehabe ihrer Mitbürger, lauschten den Neuigkeiten oder trugen stolz ihre Kleider zur Schau, um den Neid der weniger Begüterten zu erregen. Bettler hielten ihre hölzernen Schalen bittend hoch, um von den Kirchgängern ein paar Münzen als Almosen zu erhalten.
Johannes, Magdalena, Irmingard und Felipe verließen mit der Schar der Gottesdienstbesucher die Kirche. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge hindurch, ohne sich aufzuhalten und strebten der Herberge zu. Johannes sah prüfend zum strahlend blauen Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Er ahnte, dass es heute wieder ein heißer Tag werden würde. War es in der Kirche noch angenehm kühl gewesen, so spürte er schon jetzt die beginnende Hitze.


Mit einem Mal stutzte er und drehte sich suchend um. Sein Blick glitt über die Menschenmenge. Wo waren seine Begleiter geblieben? Er hatte sie in der Masse der Gläubigen verloren. Da spürte er, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Er wandte den Kopf und erschrak. Unmittelbar vor ihm stand ein alter Mann in der verschlissenen und verdreckten Kutte eines Dominikanermönchs. Sein von der Sonne gebräuntes faltenzerfurchtes Gesicht war von schlohweißem Haar und Bart eingerahmt. Sein halbgeöffneter Mund, dem ein kaum erträglicher Gestank entströmte, enthüllte schwarze und verfaulte Zähne. Am unheimlichsten aber waren seine Augen. Es waren die weißen Augen eines Blinden, die den jungen Mönch anstarrten.
Johannes wollte sich losmachen, doch mit überraschend festem Griff packte ihn der Alte am Unterarm. „Du Narr! Du Tor! Im Dunkel des Grabes wird Böses geschehen! Im Dunkel des Grabes ist das Ende aller Pilgerfahrten nahe! Vergebens ist dein Weg!“
Einige der Kirchenbesucher waren aufmerksam geworden und stehengeblieben. Neugierig schauten sie auf den alten Mann und den Pilgermönch. Leises ehrfürchtiges Getuschel erhob sich, während Manche verstohlen auf den Alten zeigten. Offenbar war der Mann in Navarrenx kein Unbekannter.


„Wer … wer seid Ihr?“ stammelte Johannes verwirrt. Der Alte legte den Kopf schief und schien den jungen Mönch mit seinen blinden Augen aufmerksam zu mustern, ohne jedoch den eisernen Griff zu lockern. Mit der freien Hand griff er in den Schopf von Johannes und tastete mit seinen schmutzigen Fingern in dessen Gesicht. „Lass ab, Bruder!“, sagte Johannes angewidert.
Und wirklich ließ der Alte seine Hand sinken. Er flüsterte überrascht: „Ein Benediktiner vorgeblich! Doch stammst Du aus dem Norden! Im Reich der Margarethe liegt Deine Heimat! Nein, mehr noch, du … du bist … fürwahr …“ Verwirrt hielt er inne. Immer mehr Neugierige hatten sich unterdessen um Johannes und den seltsamen Alten versammelt. Auch Felipe, Irmingard und Magdalena waren nun herbeigekommen. Als Felipe sah, dass der alte Mann noch immer den Arm des jungen Mönchs hielt, gab er Magdalena und Irmingard ein Zeichen, zurückzubleiben, drängte sich durch die Menge und tippte den alten Mönch an der Schulter. „Nimm Deine Hand von unserem Freund!“, befahl er scharf. Der Alte wandte seine blicklosen Augen nun Felipe zu. Für einen Moment hielt er inne, als mustere er den Neuankömmling. Er schnupperte. „Du strebst nach Hause, junger Galicier!“, zischte er dann unvermittelt, so dass Felipe erschrocken zurückwich. „Ich aber kann riechen, dass du Angst davor hast, denn was wird dein Vater zur Rückkehr des verlorenen Sohnes sagen?“ Mit einem Mal drehte er sich wieder zu Johannes, packte mit verblüffender Sicherheit dessen Kinn und zog ihn zu sich heran, bis dessen Gesicht nur einen Fingerbreit von seinem eigenen entfernt war. „Unheil wird kommen! Calixt II. hatte Unrecht! Santiago wird bittere Tränen weinen! Vergebens sind fürderhin alle Wege, wenn auch du scheiterst! Zu Asche aber wird das Kostbare werden, das du bei dir trägst. Denn nicht du wirst es sein, der …“


Mit einem Mal tauchten in der Schar der Neugierigen zwei Büttel auf, die aufmerksam geworden waren. Sie drängten sich durch die Menge, packten den Alten an den Armen und zogen ihn sacht von Johannes weg. „Lass von dem Mann ab, Bruder José!“ sagte einer der beiden mit gepresster Stimme. „Wieder einmal erzählst du frommen Pilgern deine Schauermärchen.“ Der Blinde ließ Johannes los und die beiden Männer zogen ihn mit sich. Als sie ein wenig entfernt waren, drehte sich der seltsame Alte nochmal um. „Benediktiner! Höre mir zu! Es gibt für dein Unterfangen einen Ausweg! Die Asche! Fülle die Asche in …“ Er unterbrach sich und keuchte, dann fasste er sich an die linke Brustseite, verdrehte die blinden Augen, sackte in die Knie und fiel der Länge nach mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Die beiden Büttel, die den Alten erschrocken losgelassen hatten, stießen Flüche aus. Rasch knieten sie sich neben den Leblosen und tasteten ihn ab. „Er ist tot!“, rief einer von ihnen verwundert. Die Neugierigen, die soeben noch um Johannes und seine Gefährten herumgestanden waren, wichen zurück. Sie wandten sich dem neuen Schauspiel zu und strömten zu den Männern, die noch immer fassungslos neben dem Toten knieten.
Alles war so schnell gegangen, dass Johannes kaum wusste, wie ihm geschehen war. Auch Magdalena und Irmingard starrten ungläubig dorthin, wo der Alte zusammengebrochen war. Felipe schüttelte verwundert den Kopf. „Woher wusste der blinde Alte, dass ich …“ Mittlerweile hatten die beiden Büttel den Toten aufgehoben. Er schien wenig zu wiegen, denn einer der Männer legte ihn sich über die Schultern. Die beiden schienen kurz zu beratschlagen, dann setzten sie sich in Bewegung und verschwanden rasch in einer Seitengasse. Eilig folgte ihnen die Menge. Manche der Zuschauer aber waren stehen geblieben und warfen argwöhnische Blicke zu Johannes und seinen Gefährten. Ärgerliches Raunen erhob sich. Manch drohend erhobene Faust wurde gereckt.


„Komm, Johannes“, sagte Irmingard und deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung der Herberge. „Weder du noch Felipe, niemand von euch hat Schuld am Tod dieses verwirrten alten Mannes. Doch sehen dies die Menschen hier vielleicht anders. Hubertus hat das Fuhrwerk vorbereitet und die Rösser sind aufgesattelt. Lass uns rasch aufbrechen.“ „Irmingard hat recht“, stimmte Magdalena zu. „Dieser Ort kann gefährlich werden. Er scheint Dispute und Händel nachgerade zu gebären.“ Johannes nickte stumm. Er war noch ganz gefangen von dem, was gerade geschehen war. Felipe indes verlor kein Wort, sondern packte den jungen Mönch am Arm und zog ihn mit sich.

Leseprobe 3:

16. Juli 1391, Puente la Reina
Langsam rollte der Wagen durch die Hauptstraße von Puente la Reina und auf das offene Stadttor zu, hinter dem schon die berühmte Brücke zu sehen war, die dem Ort den Namen gegeben hatte.
Magdalena, die mit Christine wieder im Innern des Wagens Platz genommen hatte, bückte sich und zog aus Johannes’ Reisebeutel dessen Wachstafel und den Griffel heraus. Wie jeden Tag seit ihrem Aufbruch aus Roncesvalles gedachte sie auch heute, Christine im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Diese war voller Wissbegier und Magdalena freute sich darüber. `Bildung´, so dachte sie im Stillen, `Bildung ist die Grundlage dafür, die Welt zu verstehen und sich nicht in die Irre führen zu lassen.´
Als sie den Griffel in der Hand drehte, sah sie das eingebrannte Jerusalemkreuz. Johannes hatte ihr von dem Armbrustbolzen erzählt, den Hubertus aus der Wunde des Toten vom Ibañeta-Pass gezogen hatte. Auch auf diesem Bolzen war ein solches Kreuz eingebrannt gewesen. War das todbringende Stück Holz, wie Johannes und Hubertus vermuteten, von denselben Händen gebaut worden, die auch den Griffel gefertigt hatten? Und stammte der unbekannte Schütze aus Johannes’ Heimat, die irgendwo an den Küsten des Meeres im Norden des Reichs oder im Mare Balticum lag?
Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Unnütz und ohne Aussicht auf Erkenntnis war es, solchen Dingen nachzusinnen. Ihr Blick streifte Christine, die noch ganz mit Roland beschäftigt war. Der Knabe war heute quengelig und sie versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen.


Magdalena rieb sich die Augen. Solange Christine beschäftigt war, blieb Zeit, über Eindrücklicheres nachzudenken. Yvain, der sich als großen Bruder von Roland betrachtete, ritt heute bei Irmingard auf der Kaltblutstute Fides mit. Magdalena sah zum Himmel. Glücklicherweise war das Wetter heute besser. Zwar war der Himmel bedeckt mit grauen Wolken, aber es regnete nicht.
Sie entsann sich des gestrigen Abends. Nach der Ankunft im Anwesen der Eheleute Hernandez, einem geschlossenen Vierseithof, der einen großen gepflegten Platz umschloss, hatten die Gefährten die ihnen zugewiesenen Kammern aufgesucht und zunächst ihre Kleider gewechselt. Zwar schien es, dass Pablo und Sofia Hernandez kinderlos waren, jedoch war das Anwesen, von lebhaftem Treiben erfüllt. Erst im Verlauf des Abends hatten sie erfahren, dass es sich dabei um Vettern und Basen von Pablo Hernandez nebst ihren Nachkommen handelte.
Nach dem Eintreffen von Felipe und dem Hausherrn blieb zunächst noch Zeit bis zum abendlichen Mahl. Pablo Hernandez hatte ihnen vorgeschlagen, nicht zur nahe gelegenen Iglesia Santiago, sondern zurück zur Kirche Iglesia de Crucifijo zu gehen, um Gott für die glückliche Ankunft in Puente la Reina zu danken. Sie müssten nur der Hauptstraße, die gleichzeitig die sirga peregrinal, die alte Pilgerstraße bildete, folgen und würden unfehlbar an der Kirche ankommen. Darin, so sagte Hernandez, solle sich ein ganz außergewöhnliches Kreuz befinden, dass aus der Nähe von Köln stamme und vor wenigen Jahrzehnten in der Kirche angebracht worden war.


Während die anderen Gefährten die Pferde versorgten und sich um die Kinder kümmerten, waren Johannes und Magdalena dem Vorschlag gefolgt und hatten sich auf den Weg gemacht. Zum Glück hatte der Regen zwischenzeitlich nachgelassen und war in sanftes Tröpfeln übergegangen.
Nur wenige Menschen waren auf den Gassen unterwegs und kaum jemand schenkte ihnen Beachtung. Bald hatten sie die kleine Kirche erreicht. In einer Seitengasse fand sich eine aus schwerem dunklem Holz gefertigte große Tür, der Eingang in das Gotteshaus. Magdalena hatte die Tür nach kurzem Zögern aufgedrückt und stieg die wenigen Treppen in das halbdunkle Kirchenschiff hinab; Johannes dicht hinter ihr.
Magdalena hatte sich gewundert, dass in der Kirche niemand zu sehen war. Vor ihren Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erstreckten sich die Kirchenbänke. Sie wandte ihren Blick nach rechts. Dort, in der halbrunden hohen Apsis, stand auf einem in Hüfthöhe angebrachten schmalen Podest ein Kreuz. Doch dieses Kreuz unterschied sich in der Tat von allen, die sie kannte. Es hatte die Gestalt eines Gänsefußes, Y-förmig mit verlängertem Mittelbalken. Die Hände des gekreuzigten Heilands waren an den äußersten Enden der schräg nach oben gerichteten Queräste angenagelt; sein Haupt nach rechts herabgesunken, die gebrochenen Augen ins Leere gerichtet. Pablo Hernandez hatte nicht übertrieben. Dies war ohne Zweifel ein ganz außergewöhnliches Kreuz.


Unbewusst und auf unerklärliche Weise von dem leidenden Heiland angezogen, ging Magdalena nach vorne und kniete nieder. Sie bemerkte nicht, dass Johannes, ebenfalls ergriffen von dem Anblick, zurückgeblieben war. Sie spürte den kalten Boden nicht, sondern hob die Hände und begann mit geschlossenen Augen den schmerzhaften Rosenkranz zu beten. Obwohl sie diese Textstellen in ihrer Zeit in Geisenfeld gemieden hatte, wo immer sie nur konnte, gingen sie ihr nun wie von selbst von den Lippen. „Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnaden, Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus, …“


Nach geraumer Zeit waren ihre Augen voller Tränen. Sie öffnete sie und wie durch einen Schleier sah sie den gekreuzigten Heiland. Sie blinzelte ungläubig. Wachte sie oder träumte sie? Das Haupt von Jesus Christus, das zuvor noch herabgesunken war, hatte der Erlöser nun erhoben. Mit dunklen Augen, die ihr tief in ihre Seele zu blicken schienen, schaute er sie an. Magdalena wagte nicht, sich zu bewegen. Das konnte nicht sein! Wie war das möglich?
Ihr stockte der Atem, als sich der Mund des Gekreuzigten öffnete und er zu sprechen begann. Magdalena hörte die Worte, die voller Barmherzigkeit waren und hörte sie doch nicht. Gewaltige Bilder, Gemälden gleich, tauchten vor ihren Augen auf. Bilder der Geschehnisse der Vergangenheit und die Gewissheit, dass alles seinen Sinn gehabt hatte. In ihr breitete sich ein allumfassendes Gefühl von Wärme und Friede aus. Ihr Atem ging schneller. „HERR“, stammelte sie zitternd, „HERR, weise mir Deine Wege und zeige mir Deine Steige.“ Nun wechselten die Bilder, wurden dunkler, bedrohlicher, überfluteten ihren Geist und füllten sie ganz aus. Magdalena sah vor ihrem geistigen Auge ein Gemälde, das eine Küste mit bogenförmigen Felsen zeigte. Ein grüner Lichtpunkt, der zu einer winzigen lodernden Flamme wurde. Noch immer bewegte der Heiland seine Lippen, hatte seine Augen unverwandt auf die Kniende gerichtet. Magdalenas Atmen war in immer schnelleres Keuchen übergegangen. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Erlöser abwenden. Bunte Kreise begannen vor ihren Augen zu tanzen, Flammen züngelten empor und Blut rauschte in ihren Ohren. Dann verstummte der Heiland und warf ihr noch einen letzten warmen Blick zu, bevor sein Haupt wieder herabsank. Magdalena aber wurde schwarz vor den Augen und sie sank zu Boden. Dass sie in die Arme des zutiefst erschrockenen Johannes fiel, nahm sie nicht mehr wahr.


Sie erwachte, als jemand sie kräftig schüttelte und schlug die Augen auf. Ein verschwommenes Gesicht war zu sehen. „Was …?“ stammelte sie benommen. „Du bist während des Betens ohnmächtig geworden!“, hörte sie die besorgte Stimme von Johannes. „Geht es dir gut?“ Magdalena blinzelte. Das Bild vor ihren Augen wurde klarer. Nicht nur Johannes betrachtete sie voller Sorge, sondern eine Reihe unbekannter Gesichter starrten sie mit einer Mischung aus Argwohn, Mitleid und Neugier an. Gemurmel war zu vernehmen. „Me … me va bien“, sagte sie, um die Umstehenden zu beruhigen. Den Satz hatte sie einst von Felipe in Engelberg gelernt. Glücklicherweise war er ihr wieder eingefallen.
Ein Aufatmen war durch die Reihen gegangen. Johannes hatte ihr geholfen, wieder aufzustehen. „Perdone … perdone … gracias … gracias“, hatte sie gemurmelt und war langsam zwischen den Kirchenbänken in die hinterste Reihe gegangen. Alle Augen waren ihr gefolgt. Sie hatte sich niedergelassen und leise gebetet. Auch Johannes hatte sich neben sie gesetzt und gebetet. Nach und nach war die Aufmerksamkeit der anderen Gläubigen wieder erloschen.


In einem günstigen Moment, als die Gemeinde voller Inbrunst den Rosenkranz betete, waren sie und Johannes lautlos und unbemerkt hinausgehuscht.
„Was ist mit dir geschehen?“, hatte Johannes besorgt gefragt. Dies war für Magdalena der Beweis, dass dieses eigentümliche Erlebnis nur ihr widerfahren war. Während sie durch die Hauptstraße zurück zum Anwesen der Eheleute Hernandez gegangen waren, hatte sie ihm leise davon erzählt. Ihre Befürchtung, dass er es als Einbildung abtun würde, hatte sich zu ihrer Erleichterung nicht erfüllt. Er hatte nur schweigend aufmerksam zugehört und nachdenklich genickt. „Was war das? Die Macht Gottes?“, hatte sie leise gefragt. „Gewiss“, hatte er geantwortet. „Doch was hat der Heiland dir offenbart?“ Magdalena war stehengeblieben  und hatte ihn angesehen. „Er sprach und sprach doch nicht“, sagte sie mit rauer Stimme. „Es war überwältigend und ist nicht einfach zu erklären. Doch eines ist gewiss: Es wird etwas geschehen. Der blinde Mönch von Navarrenx hatte Recht: Santiago wird bittere Tränen weinen, wenn du scheiterst.“


*

Band V: Im Auge des Sturms


Leseprobe 1:

5. Oktober 1391, Gerichtsstätte des Probstrichters von Geisenfeld
Die Gerichtsverhandlung war soeben zu Ende gegangen und die Zuschauermenge zerstreute sich. Obwohl der Oktober schon angebrochen war und ein kalter Wind über das Land strich, hatte die Verhandlung nicht im Amtsgebäude des Probstrichters stattgefunden, sondern auf einer Wiese unweit der Hochstatt, der Hinrichtungsstätte.
Der Richtertisch, der unter einem mächtigen Lindenbaum aufgebaut war, wurde gerade von Knechten zerlegt und auf einen Leiterwagen geladen. Der Probstrichter selbst, ein untersetzter Mann mit ergrauenden Haaren, war gleich, nachdem die Verhandlung ihr Ende gefunden hatte, auf sein Ross gestiegen, um nach Geisenfeld zurück zu reiten. Auch die Cellerarin des Klosters, Schwester Benedikta, hatte sich mit ihrer Begleiterin, einer jungen Ordensfrau, bereits auf den Rückweg in die Abtei gemacht.


Agnes Pfeifer, eine junge Bäuerin aus Nötting, hakte sich fröstelnd bei ihrem Ehemann Alberto unter. „Dank sei Gott, dass dich der Probstrichter abermals freigesprochen hat“, sagte sie erleichtert. „Niemand, der bei wachem Verstand ist, glaubt den Anschuldigungen, du habest ungerechtfertigt im Klosterwald Bäume heimlich geschlagen und abtransportiert.“ „Ja“, erwiderte Alberto mit verbitterter Stimme. „Doch dereinst wird es soweit sein, dass man mir nicht mehr traut. Sieh dich um, die Menschen hier in Geisenfeld und auch in Nötting wollen bald nicht mehr viel mit uns zu tun haben. Das Gift der steten Verleumdung zeigt allmählich Wirkung.“ Agnes blickte unauffällig um sich. In der Tat hatten die Bürger von Geisenfeld während der Verhandlung Abstand von ihr gehalten. Auch jetzt, beim Nachhauseweg, waren die Nachbarn aus dem kleinen Ort, die ebenfalls der Verhandlung beigewohnt hatten, schnell davon gegangen und hatten deutlich Distanz gewahrt. „Der neue Probstrichter ist ein gerechter Mann und Äbtissin Ursula vertraut dir und mir unverändert“, versuchte Agnes ihren Mann zu trösten. „Die Anschuldigungen werden auch fürderhin ohne Folgen bleiben.“


Sie zog ihren dünnen Mantel enger zusammen, als eine kalte Böe einsetzte. Zahllose Blätter taumelten im Wind. Alberto blieb stehen. „Als mich die Äbtissin im vergangenen Jahr nach den schlimmen Ereignissen hier im Markt mit klingender Münze entschädigte und uns gar zwei Äcker wie auch ein Waldstück zur Bewirtschaftung überließ, war ich froh. Als wir heirateten und ich den Namen deiner Familie annahm, war ich glücklich; wähnte mich hier heimisch und angenommen. Als vor wenigen Wochen unser Sohn Georg geboren wurde, kannte mein Glück keine Grenzen. Deine Eltern standen uns stets bei. Doch nun habe ich Angst, dass diese niederträchtigen Anschuldigungen weitergehen und uns bald niemand mehr glaubt und hilft.“ Agnes legte ihren Kopf auf seine Brust. „Ich weiß“, sagte sie leise. „Doch wir dürfen nicht aufgeben. Einst wird es sich zum Guten wenden. Vertrau auf den HERRN.“ Alberto sagte nichts, sondern schlang seine Arme um sie.


„Lass uns gehen“, fuhr Agnes nach einer Weile fort. „Es ist Zeit, die Futterrüben einzubringen. Unsere Rinder und Schweine brauchen sie für den nahenden Winter. Und die geschlagenen Bäume liegen noch im Wald. Zudem müssen Sägen und Äxte geprüft und geschärft werden. Denk auch an das Geschirr und die Ketten für das Holzrücken mit den Pferden.“ „Ja“, sagte Alberto. „Lass uns gehen. Der kleine Georg wird Hunger haben.“ Agnes hakte sich wieder unter und sie gingen nach Nötting zurück. Als sie die Hauptstraße entlangliefen, bemerkten sie, dass die wenigen Nachbarn, die bei der kalten Witterung noch draußen waren, die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten. Agnes und Alberto grüßten. Nur zögerlich erwiderten die Dorfbewohner den Gruß.


Agnes und Alberto lenkten ihre Schritte von der Straße nach rechts zum elterlichen Hof von Agnes. Dieser bestand aus einem dreiseitigen, ganz aus Holz erbauten Anwesen. Das langgestreckte Wohngebäude ging in einen Stall über. An dessen Ende wölbte sich ein gemauerter Bogen, der nur so breit war, dass ein Mann mit einer Schubkarre hindurchpasste. Der Bogen stellte die Verbindung zur Scheune her, die den Hintergrund des Hofes bildete. Rechter Hand gegenüber dem Haupthaus stand ein schmaler Hühnerstall. In der Mitte des Hofes wuchs ein stattlicher Kirschbaum unweit eines Brunnens. Auch er hatte schon die meisten der Blätter verloren. Als die beiden jungen Leute die warme Wohnstube betraten, legte die Mutter von Agnes ihr Nähzeug zur Seite, erhob sich und eilte ihnen entgegen. „Gott sei es gedankt, dass ihr beide wohlbehalten zurückgekommen seid. Also hat der Probstrichter dich freigesprochen, Alberto.“ Dieser nickte. „Ein weiteres Mal, ja. Doch wie lange mag dies so gehen? Was, wenn noch mehr solche haltlosen Verdächtigungen geschehen und unser Ruf in ganz Geisenfeld zugrunde gerichtet wird? Des Ausstoßens schwerer Beleidigungen wurde ich bezichtigt wie auch, den Gottesdienst zu schwänzen oder Grenzsteine zu verrücken. Jetzt war es die Anklage, Bäume des Klosterforsts widerrechtlich gefällt und gestohlen zu haben. Was kommt als Nächstes? Dass ich meine Notdurft in der Klosterkirche verrichte?“
„Der neue Probstrichter Kresser ist ein guter Mann“, erwiderte Berta Pfeifer. „Wie jedermann weiß, führt die Verhandlungen gerecht und wägt alles ab. Seit seinem Eintreffen in Geisenfeld spricht er immer am fünften Tag des Monats Recht, nicht mehr wie früher Richter Frobius, der den sechzehnten Tag bestimmte. Damit zeigt er auch, dass er anders ist als sein ruchloser Vorgänger.“


„Wir wissen, wer hinter all den falschen Behauptungen steckt“, fügte Agnes mit bitterer Stimme hinzu. „Stephan Wagenknecht und sein Vater Herbert. Sie haben uns nie verziehen, dass wir dazu beitrugen, dass der alte Wagenknecht im letzten Jahr aus dem Dienst entlassen wurde. Wagenknecht, der ruchlose Verschwörer! Er hätte schon lange zur Rechenschaft gezogen werden müssen, damit dieser Alptraum aufhört. Aber man konnte ihm nichts nachweisen. Und so finden er und sein Sohn nicht nur fortwährend Gehör beim Bürgermeister Weiß, sondern auch genügend zwielichtige Gestalten, die solche falschen Aussagen treffen und als gedungene Zeugen auftreten.“ „Doch wichtig ist für uns, dass im Kloster keine bösen Gerüchte verbreitet werden“, hoffte Agnes. Dann fiel ihr etwas ein und sie schaute suchend umher. „Wo ist Georg?“ Berta Pfeifer zeigte auf ein hölzernes Bettchen, das unweit des offenen Herdfeuers an der Wand stand. „Er schläft noch.“ Agnes ging zum Bettchen und beugte sich darüber. Der Kleine schlief tief und fest. Er verzog den Mund zu einem Grinsen, bewegte die Fäustchen und grunzte leise.


„Er muss getauft werden“, sagte Berta Pfeifer mahnend. „Er ist schon bald fünf Wochen alt und es wird Zeit.“ Ihr Mann nickte zustimmend. „Ich weiß“, seufzte Agnes. „Aber die viele Arbeit…“ „Ich bereite alles vor, um das geschlagene Holz aus dem Wald zu holen“, sagte Alberto mit fester Stimme. „Sobald dies erledigt ist, lassen wir unseren Sohn taufen. Die Rübenernte muss warten.“ Er trat aus dem Haus. „Je länger Georg ungetauft bleibt, desto mehr bildet sich neuer Nährboden für weitere böse Gerüchte“, gab Berta Pfeifer zu bedenken. „Es gibt Menschen, die in Alberto noch immer das Kind eines gottlosen Spielmanns sehen. Und Georg als sein Sohn…“ Sie sah ihren Mann vielsagend an. „Ich suche in den nächsten Tagen Pfarrer Niklas auf“, entgegnete Agnes entschlossen. „Und Alberto soll mitgehen. Könnt Ihr die Rübenernte…?“
„Das ist schon gut, Kind“, erwiderte Josef Pfeifer. „Kümmert ihr euch darum, dass Georg bald getauft wird. Alles andere lass unsere Sorge sein.“


Alberto ging derweil, tief in Gedanken versunken, unter dem gemauerten Bogen des Hofes hindurch zu dem Häuschen, das er und Agnes seit dem letzten Herbst hinter dem Anwesen ihrer Eltern erbaut hatten. Das Gebäude war im Sommer fertig geworden. Es war ebenfalls ganz aus Holz gefertigt. An das Haus schloss sich rechter Hand eine Scheune an, die für den Truhenwagen und die Gerätschaften gerade ausreichte. Hinter dem Haus, auf der Südseite, befand sich der Garten, in dem nicht nur Haselnussstauden gepflanzt und Kräuterbeete errichtet waren. Alberto hatte mit Hilfe seines Schwiegervaters auch einen Teich für die Haltung von Speisefischen angelegt. Darin tummelten sich Karpfen und Äschen. Besonders stolz war Alberto auf den Stall, dessen Errichtung erst vor wenigen Tagen abgeschlossen worden war. Er war auf einem kleinen Teil der südwärts an den Garten angrenzenden Wiese von einem Zimmermann aus Nötting gebaut worden. Im Stall war genug Platz für zwei Milchkühe wie auch die beiden alten Pferde. Für gewöhnlich waren die Tiere, solange es möglich war, auf der Wiese und wurden erst im späten Herbst in den Stall gebracht. Ein Schöpfbrunnen nebst einer kleinen, von einem Zeltdach geschützten gemauerten Schmiede vervollständigten den Besitz. Zu den Flächen, die Alberto im Herbst des letzten Jahres vom Kloster zur Bewirtschaftung erhalten hatte, gehörte ein Stück Wald von etwa fünf Tagwerk und zwei Äcker. Auf den Äckern bauten er und Agnes Rüben und verschiedene Getreidesorten wie Emmer, Roggen und Hafer an. Im vergangenen Winter indes war es so gewesen, dass schwere Schneefälle und Windbruch dafür gesorgt hatten, dass eine große Anzahl von Bäumen gefällt werden mussten. Alberto, sein Schwiegervater sowie die Brüder von Agnes hatten in wochenlanger schwerer Arbeit das Holz gespalten. Es war so viel angefallen, dass es mehrere Winter reichte. Überdies konnte Alberto auch einige Fuder an Geisenfelder Bürger verkaufen.


Alberto öffnete das Tor der Scheune, um alles für die Gerätschaften für die Rübenernte zusammenzutragen und den Truhenwagen für das Einspannen vorzubereiten. Da hörte er ein aufgeregtes Hufeschlagen. Jedem anderen wäre dies wohl entgangen, doch Alberto hatte jahrelang im Wald nördlich von Nötting gelebt. Dabei waren seine Sinne geschärft worden. Er schloss die Augen, spitzte die Ohren und lauschte aufmerksam. Kein Zweifel, die Pferde auf der Wiese hinter dem Garten waren ängstlich. Er vernahm ängstliches Schnauben und nervöses Keuchen. Sogar die beiden Kühe hatten sich, soweit er vernahm, davon anstecken lassen. Eilig lief Alberto durch die Scheune und öffnete die hintere Türe, die in den Garten führte. Er wunderte sich, dass Rasso nirgends zu sehen war. Vor drei Monaten hatten Agnes und er den jungen streunenden Mischlingshund aufgelesen. Rasch war es Alberto gelungen, das Tier an sich zu gewöhnen. Rasso betrachtete schnell den Hof als sein Revier, das es zu verteidigen galt. Noch aber hatte er kein ausreichendes Misstrauen gegenüber Fremden entwickelt. Alberto beobachtete, dass sich einige Raben auf dem Dach des Stalls versammelt hatten. Lautes Krächzen und das wilde Schlagen von Flügeln waren zu hören. Eine böse Vorahnung stieg in ihm auf und er beschleunigte seine Schritte. „Rasso!“, rief er. Wie als Antwort flogen zwei Raben auf. Als Alberto sah, was die Vögel angezogen hatte, blieb er wie erstarrt stehen. Das Blut schien ihm in den Adern zu gefrieren. An einem Dachbalken über einer der Stalltüren hing Rasso. Eine dünne Schnur war um seinen Hals geschlungen, die Augen von den Raben schon aus den Höhlen gehackt worden. Die bläuliche Zunge hing dem toten Hund aus dem Hals. Alberto hatte seinen ersten tiefen Schreck überwunden. Langsam trat er näher. Als er den toten Hund erreicht hatte, sah er, dass zwischen die Augenhöhlen des Tieres ein Nagel getrieben war, auf dessen breitem Kopf fein säuberlich ein Pentagramm, ein Drudenfuß, eingeritzt war.


Leseprobe 2:

8. Oktober 1391, an Bord der „Gerlinde“
Die Kogge neigte sich zur Steuerbordseite. Lars Olsen, der Steuermann, hielt das Ruder mit eisernem Griff und der Bug des Schiffes richtete sich allmählich von der Küste weg nach Norden. Hubertus und Johannes standen an Deck unterhalb des Kastells und umklammerten gemeinsam das Ende der Backbordschot, die am Unterliek des Segels befestigt war und über einen hölzernen Block lief. Auch die anderen Besatzungsmitglieder hatten ihre Posten eingenommen, bereit, auch den leisesten Befehl des Schiffers sogleich zu befolgen. Niemand sprach ein Wort. An Deck herrschte nahezu gespenstische Stille. Nur das Rauschen der Wellen war zu hören. Auch der Wind hatte nachgelassen. Alle, auch Kapitän Johannson blickten gebannt auf die dunkle Wolkenwand, die sich schwarz und bedrohlich immer weiter auftürmte. Fast schon stand sie über der „Gerlinde“. Auch die dunkelgrauen pilzartigen Wolken waren auf groteske Weise nach oben gewachsen und hatten sich weiter ausgebreitet.


„Die Ruhe vor dem Sturm“, murmelte Hubertus. Johannes musterte die Silhouette des fremden Schiffes, die nun deutlich zu erkennen war und immer näherkam. Auch dort war das Segel gerefft worden. Johannes vermeinte, an Deck einige Gestalten hastig umhereilen zu sehen. Der Klumpen, den er im Hals spürte, schien noch größer geworden zu sein. „Sollten wir uns nicht bewaffnen?“, fragte er. „Warum gibt Johannson nicht den Befehl dafür?“ Hubertus schüttelte den Kopf. „Der Schiffer weiß genau, dass wir jede Hand brauchen, um den Sturm abzuwettern. Zudem wäre der Kapitän der Vitalier ein Narr, wollte er versuchen, ein Schiff zu entern, während sein eigenes ums Überleben kämpft. Wir indes sollten uns bereithalten. Gibt Acht, es geht los.“


Nur einen Augenblick später hatte sich die Wolkenwand vor die Sonne geschoben. Von einem Moment auf den anderen wurde es dunkel, als sei die Nacht hereingebrochen. Die grauen pilzförmigen Wolken schienen nun direkt über der Kogge zu stehen. Unvermittelt heulte der Wind ohrenbetäubend auf. Ein Ruck ging durch das Schiff, als starke Böen es erneut auf die Steuerbordseite drückten. „Steuermann, auf Kurs bleiben!“, schrie Johannson. „Arne! Arne, du Faulpelz! Mit an das Ruder! Schotmänner, holt das Segel an Backbord dicht! An Steuerbord auffieren! Los, ihr Landratten!“ Hubertus und Johannes zogen mit aller Kraft an der Schot, ebenso wie die Männer über ihnen, die auf dem Kastell standen. Auf der Steuerbordseite ließen die Matrosen die Schot vorsichtig durch die Blöcke gleiten, damit das Segel nicht unkontrolliert umherschlug. Lautes Prasseln ertönte und steigerte sich schnell zu ohrenbetäubendem Lärm. Innerhalb weniger Augenblicke hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Starker Regen rauschte herab und es schien, als hätten sich Regen und Meer rund um das Schiff vereint. Obwohl Johannes und Hubertus vom Deck des Kastells leidlich geschützt waren, fanden die schweren Tropfen bald ihren Weg durch die Planken. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann waren beide bis auf die Haut durchnässt.


Johannes wischte sich die Regentropfen aus den Augen und blinzelte. Zu seinem Schrecken konnte er den Bug der schräg liegenden Kogge nicht mehr erkennen. Für einige Augenblicke verlor er vollständig die Orientierung; wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Dann aber richtete sich das Schiff langsam wieder auf. „So ist es gut!“ Durch das Brüllen des Sturms und das Prasseln des Regens war die Stimme des Schiffers kaum zu verstehen. Schwer setzte der Rumpf der Kogge in die sich auftürmenden Wellen ein. Wieder und wieder drohten die Sturmböen, es zur Seite zu drücken und kentern zu lassen. Noch immer herrschte Dunkelheit, doch hatten sich die Augen von Johannes nunmehr einigermaßen daran gewöhnt. Er konnte schemenhaft den Bug der Kogge ausmachen. Das brachte ihn auf einen anderen Gedanken. Suchend schaute er über die Bordwand, ob irgendwo die Seeräuber zu sehen war. „Wo sind die Vitalier?“ rief er. Hubertus, der mit ihm aus Leibeskräften an der Schot zog, schüttelte nur unwillig den Kopf. Aus den Augenwinkeln sah Johannes durch den dichten Regen einen dunklen Schatten von Backbord. Erschrocken zuckte er zusammen. Im Kielwasser der „Gerlinde“ rauschte das fremde Schiff dicht am Heck der Kogge vorbei. Johannes glaubte, an Deck einige ungläubig dreinblickende Gesichter mit weit aufgerissenen Mündern erspäht zu haben. Doch nur einen Moment später waren die mutmaßlichen Seeräuber hinter der dichten Regenwand verschwunden.


Johannes hörte durch das Heulen des Sturms und das Rauschen des Regens aufgeregte Schreie. Sie schienen von überall her zu kommen. Dazwischen erklang Johannsons Stimme: „Schotmänner! Backbordschot auffieren! Steuerbordschot dichtholen!“ Mit zusammengebissenen Zähnen konzentrierte sich Johannes darauf, das dicke Seil langsam und gleichmäßig durch die Finger gleiten zu lassen. „So ist es gut!“, rief der Schiffer. „Jetzt die Schoten festlaschen! Eilt euch, faules Pack! Steuermann, Kurs halten!“ Hastig schlugen Johannes und Hubertus die Schot um die dafür vorgesehenen Pflöcke. „Backbordschot Unterliek festgelascht!“, schrie Hubertus zum Deck des Kastells hinauf. Kurz darauf ertönten die gleichlautenden Rufe der anderen Seeleute, die das Segel bedienten.


Johannes atmete auf. Er rieb seine Finger, die von der Anstrengung verkrampft waren. Da hörte er, wie jemand vom Kastell herabkletterte. Es war der Schiffer, der, sich unablässig ausbalancierend, zu ihnen trat. Seine Augen funkelten und obwohl er hart und entschlossen wirkte, schien ein triumphierendes Lächeln seine Lippen zu umspielen. Johannes konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass der Kapitän auf seine Weise die stürmische Fahrt geradezu genoss. „Der Sturm scheint für einige Momente schwächer zu werden!“, rief er. „Wir sind auf stetigem Kurs. Doch wir müssen wachsam sein.“ Er wies nach Westen. „Dort hinten kommt es wieder ganz schwarz. Ich fürchte, es wird noch heftiger als bisher werden. Zudem ist das Schiff dieser Halsabschneider vielleicht noch in der Nähe. Auf meinen Befehl bewaffnet ihr euch!“ Aus dem Laderaum erklang aufgeregtes Wiehern. „Unsere Rösser!“, rief Hubertus. „Bitte um Erlaubnis, nach den Tieren zu sehen.“ Johannson verkniff missmutig das Gesicht. „Verdammtes Vieh!“, zischte er.


Nun setzte die Kogge schwer in ein Wellental ein. Während Johannes Mühe hatte, sich festzuhalten, verzogen Hubertus und Johannson keine Miene, sondern standen fest an Deck. Der Schiffer schien nun seine Meinung zu ändern. „Nun gut, schau nach, aber eile dich, bevor der Sturm wieder stärker wird“ knurrte er. „Und mach dich zumindest nützlich! Prüfe, ob die Ladung unter Deck noch sicher verstaut ist.“ Hubertus hob die Hand, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und eilte zu einer der vorderen Luken, die in den Laderaum führten. Als er verschwunden war, fluchte Johannson unvermittelt. „Tod und Teufel, ich bin froh, wenn ihr und eure Weiber samt Kind, Rössern und dem Wagen wieder an Land geht. Ihr stehlt Laderaum und bringt nur Ärger, Verspätung und Unglück.“ Er blickte um sich und winkte dann einem Mann der Besatzung, der unter dem Kastell neben dem Steuermann stand. „Jörn!“ Der Mann drehte sich um. „Hierher!“ Jörn kam gehorsam angetrabt und sah Johannson abwartend an. „Du bleibst bei Johannes am Segel, bis Hubertus dich wieder ablöst! Der schaut gerade im Laderaum nach seinem wurmstichigen Wagen und den lahmen Gäulen, die uns den Platz stehlen.“ Jörn brummte unwillig. Johannes wollte energisch protestieren, doch dann zog er es vor, zu schweigen. Es hatte keinen Sinn, mit dem Schiffer zu streiten. „Sind die Vitalier noch in der Nähe?“, fragte er stattdessen. „Johannson spuckte aus. Der Wind ließ den Speichel in der Luft tanzen und wehte ihn über die Backbordreling hinweg. „Diese Brut hätte uns fast gerammt“, sagte er wütend. „Hoffentlich schickt sie der Allmächtige auf den Meeresgrund. Wenn nicht, dann…“ Er sprach nicht weiter, sondern wandte sich brüsk ab und stapfte zu den Männern an der Steuerbordschot.


Johannes holte tief Luft. Verstohlen warf er einen Blick zu Jörn, doch dieser starrte nur finster vor sich hin. Noch immer rauschte der Regen, doch schien er ein wenig nachzulassen. Der Sturmwind wehte von achtern und trieb die „Gerlinde“ nun auf stetigem Kurs gen OstNordOst. Noch immer setzte der Bug der Kogge in die Wellentäler ein, aber das Schiff wurde nicht mehr so stark umhergeworfen. Johannes sah nach Westen. Durch das hohe Kastell konnte er nicht sehr viel erkennen, doch er erblickte eine weitere schwarze Wolkenwand, in deren Inneren Blitze zu toben schienen. Zweifellos stand ein erneutes Erstarken des Sturms bevor. Ob das Schiff auch diesem Angriff der Naturgewalten standhalten konnte? Johannes machte sich Sorgen um Magdalena. Zwar war sie nicht allein in ihrer Kammer, denn Irmingard und Yvain waren bei ihr. Aber sicher würde sie wieder schwer unter der Seekrankheit leiden. Er lauschte. Das Wiehern der Pferde war verstummt. Wie viel Zeit würde Hubertus für das Überprüfen der Ladung brauchen? Sobald er wieder zurück an Deck war, wollte Johannes nach Magdalena sehen. Wie es ihr wohl ging?

Leseprobe 3:


17. Oktober 1391, an Bord des Schiffes „Seefalke“

Der kalte westliche Wind trieb das Vitalierschiff voran. Tief tauchte der Bug in die Wellen ein, doch das Schiff machte gute Fahrt. Vor zwei Tagen hatten sie Norderney passiert und zunächst Kurs auf Scharhörn genommen. Dann aber hatte Godecke Michels befohlen, auf Kurs Nord-NordOst zu gehen. Es hatte leicht zu regnen begonnen. Der Wind trieb die kalten Tropfen, die sich mit der Gischt des Westmeeres mischten, über das Deck. Wer nicht im Krähennest oder an den Segeln eingeteilt war, versuchte, sich unterhalb der Reling oder zwischen den Tauen in einem halbwegs geschützten Plätzchen warmzuhalten.


Hubertus aber, der Neuankömmling an Bord, stand aufrecht vor dem Mast des Schiffes und beobachtete die Wellen. Obwohl seine Kleidung vollständig durchnässt war, schien ihm heute weder der kalte Regen, noch der frische Wind oder die Gischt viel auszumachen. Nur eine alte grüne Gugel, die schon mehrfach geflickt worden war, widerstand der klammen Feuchtigkeit und wärmte seinen Kopf. Hubertus hatte das Kleidungsstück vor wenigen Tagen von Magister Wigbold erhalten. „Nimm es, du hast ja scheinbar keine Mütze oder Ähnliches. Hajo ist beim letzten Sturm über Bord gegangen; er braucht sie nicht mehr“, hatte Wigbold gebrummt „Die Gugel ist das Einzige, was von ihm übrigblieb. Und auch nur deshalb, weil sie an der Reling hängenblieb, während er selbst dies nicht vermochte. Wir werden sehen, wie lange du sie trägst.“ Sein Kichern hatte noch lange in Hubertus’ Ohren geklungen.


„He, Sven!“, rief unvermittelt eine kehlige Stimme. „Sven Bengtsson!“ Hubertus brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass er damit gemeint war. `Verdammt´, dachte er, `ich muss mich vorsehen. Ich heiße Sven Bengtsson, solange ich auf diesem Räuberkahn bin.´ Betont langsam drehte er sich um. Zwei der Vitalienbrüder, Pieter und Alfred, waren von ihrem Lager zwischen den Tauen aufgestanden und starrten ihn auffordernd an. Hubertus hatte bereits gehört, dass die Beiden zu den streitlustigsten Seeräubern gehörten. Bisher war es ihm allerdings gelungen, sich nicht in einen Disput hineinziehen zu lassen. Mit Gefangenen, so hieß es, sollten sie nicht viel Federlesesens machen. Manchen Mann hatten sie zu ihrem Vergnügen zu Tode geprügelt. Und auch die neuen Besatzungsmitglieder schlugen sie gerne zusammen, um sich Respekt zu verschaffen, ohne dass ihnen Einhalt geboten wurde.
„Was gibt es?“, fragte Hubertus. Pieter sah Alfred an. „Hörst du das freche Bürschchen, er wagt zu fragen, was es gibt.“ Alfred reckte das bärtige Kinn vor. „Hältst dich für was Besseres, was?“, versetzte er. „Legt sich nicht hin wie wir alle, sondern steht vor dem Mast wie festgenagelt, als könne er jede See abwettern.“ „Festnageln, ja, das wäre das Richtige für den Kerl“, rief Pieter. „Dann macht er sich nicht vor Angst in die Hosen, wenn wir wieder ein Schiff kapern. Oder, Männer?“ Pieter sah auffordernd die anderen Vitalier an. Die meisten von ihnen grinsten in Erwartung einer handfesten Schlägerei, die sie von dem schlechten Wetter ablenken würde.
„Ja, nagelt eine Hand des Neuen an den Mast!“ rief einer. Gelächter folgte. „Festnageln, festnageln“, fielen nun mehrere Stimmen gröhlend ein. „Du!“, rief Alfred und zeigte auf einen grauhaarigen, buckligen Vitalier. „Hol einen Hammer und ein paar lange Nägel!“ Der Mann grinste und humpelte eilig zu einer Luke, die nach unten führte. Hubertus schwieg und sah aufmerksam in die Runde. Die Vitalier begannen nun langsam, einen Kreis um ihn und seine Gegner, Pieter und Alfred, zu bilden. Als Hubertus auf das Kastell blickte, erkannte er dort Godecke Michels und Magister Wigbold, die durch den Tumult aufmerksam geworden waren. Godecke stand breitbeinig mit verschränkten Armen und mit unbewegtem Gesicht da und beobachtete das Geschehen. Wigbold lehnte sich rückwärts an eine große Truhe, die auf dem Kastell stand und verfolgte alles, soweit es unter seiner Kapuze zu erkennen war, mit gespitzten Lippen. Auch die Seeräuber, die an den Segeln eingesetzt waren, schauten neugierig auf Hubertus und seine beiden Gegenspieler.


Pieter machte einen Schritt auf Hubertus zu und tat, als wolle er mit der Faust in Hubertus’ Gesicht schlagen. Der aber wich einen Schritt zurück und hob die Fäuste. Pieter lachte keckernd. „Du scheißt dir ja jetzt schon die Beine voll, du Feigling!“, rief er. „Buh!“ Er tänzelte nach vorn und streckte Hubertus die Zunge heraus. „Buh! Buh!“ Beifall heischend sah er umher, bevor er sich wieder Hubertus zuwandte. Dieser machte unter dem höhnischen Gelächter der anderen Seeräuber einen weiteren Schritt zurück. Dabei bemerkte er eine verstohlene Geste, die Pieter zu Alfred machte. Dieser hatte sich seitlich an Hubertus herangepirscht und sprang nun mit einem großen Satz auf ihn zu, um ihn zu Boden zu reißen. Hubertus sah die Bewegung, drehte sich mit einem raschen halben Schritt zur Seite und ließ Alfred ins Leere springen. Er duckte sich und hieb ihm in Windeseile mit der Faust zwischen die Beine. Schwer schlug der Seeräuber auf den Planken auf. Er krümmte sich stöhnend und nach Luft ringend auf dem Deck.


Ein kollektives Aufstöhnen des Erstaunens erhob sich. Die Seeräuber sahen sich verblüfft an. Mancher Daumen wurde nach oben gereckt. Pieter war für einen Augenblick fassungslos vor Erstaunen. Dann stieß er einen Wutschrei aus, ballte die Fäuste und stürmte auf Hubertus los. Dieser aber wartete, bis Pieter nahe genug war, stieß sich dann mit dem rechten Bein ab, machte mit dem linken einen Satz nach vorn und donnerte den rechten Fuß von unten in Pieters Kinn. Man hörte einen Knochen krachen und den Getroffenen einen lauten Schrei ausstoßen, während er rücklings auf die Planken fiel. Blut schoss aus Pieters Mund und sein Kinn schien eigenartig verformt. Brüllend vor Schmerz spuckte er Zähne auf das Deck, während er sich am Boden wälzte. Erneut ging ein aufgeregtes Raunen durch die Zuschauer, die kaum glauben konnten, was sie hier sahen.
„Sehr gut, Sven!“, rief einer aus der Menge. Doch im selben Moment hatte Alfred nach Hubertus’ Bein gestoßen. Dieser verlor das Gleichgewicht und taumelte auf die johlenden Vitalier zu, die den Ring um sie gebildet hatten. Hubertus erhielt einen Schlag in die Nieren, der ihm die Luft abschnürte. Zugleich wurde er wieder ins Innere des Rings gestoßen. Er stolperte und fiel keuchend und hustend auf die Knie. Alfred war derweil wieder auf die Füße gekommen. Mit wutverzerrtem Gesicht holte er aus, um Hubertus an die Schläfe zu treten. Dieser aber ließ sich gerade noch rechtzeitig fallen, schwang sein Bein und stieß es in die Kniekehlen des Angreifers. Rücklings fiel Alfred unter dem Aufstöhnen der Zuschauer auf das Deck. Auch er rang nun nach Luft.
Hubertus kämpfte sich hoch, warf sich auf Alfreds Brust. Erste Anfeuerungsrufe ertönten. Hubertus aber schlug mit seinen Fäusten auf Alfreds Gesicht ein, bis dieser, blutüberströmt, keinen Laut mehr von sich gab. Keuchend erhob sich Hubertus unter dem Beifall der übrigen Vitalier, da sah er etwas blitzen. Pieter war wieder auf die Beine gekommen. Er hielt ein Messer in seiner ausgestreckten Faust. Mit einem gurgelnden Schrei lief er schwankend auf Hubertus zu, bereit, ihm die Klinge in den Leib zu stoßen. Dieser hielt für einen winzigen Moment inne, dann trat er dem Seeräuber kräftig mit dem rechten Fuß von unten gegen die Faust. Das Messer flog senkrecht nach oben. Hubertus nutzte den Augenblick und versetzte Pieter einen Magenschwinger. Der sackte in die Knie. Hubertus warf den Kopf nach oben, sah das herabfallende Messer und fing es geschickt auf. Er sprang hinter Pieter, ergriff dessen Haarschopf, riss seinen blutüberströmten Kopf nach oben und hielt ihm das Messer an den Hals.


Schlagartig trat Totenstille auf dem Schiff ein. Nur noch das Knarren des Holzes und das Schreien von Möwen war zu vernehmen. Im selben Moment kam der bucklige Vitalier mit dem Hammer und einigen Nägeln zurück. Als er sah, welches Bild sich ihm bot, riss er vor Verwunderung den Mund auf. Hubertus grinste grimmig, als er die gebannt dreinblickende Meute beobachtete. Er ließ den Haarschopf von Pieter los, tätschelte ihm die Wange und beugte sich zu Pieters Ohr hinab. Freundlich lächelnd flüsterte er, so dass nur sein Gegner es hören konnte: „Fürderhin lässt du mich in Frieden. Und du wirst alles tun, was ich dir sage. Alles. Du und ebenso dein Freund. Sonst findet sich jeder von euch mit einer Klinge im Hals als Fischfutter im Meer wieder. Hast du mich verstanden?“ Pieter wagte kaum zu nicken. „Verstanden“, röchelte er leise. Hubertus nickte lächelnd und tätschelte ihn erneut, diesmal beinahe liebevoll. „Gut!“
Er ließ Pieter los, machte eine schnelle Drehung mit dem Oberkörper und warf das Messer zum Mast. Zitternd blieb die Klinge im Holz stecken. Pieter sackte nach vorne und kauerte sich, auf die Ellenbogen gestützt, keuchend auf die Planken. Hubertus richtete sich zu voller Höhe auf und sah sich im Kreise der Vitalier um. Diese starrten ihn anfangs unsicher an. Dann rief einer: „Ein Hoch auf Sven Bengtsson!“ Einige weitere fielen ein. Schließlich rief die ganze Runde: „Hoch Sven Bengtsson! Hoch Sven Bengtsson!“ Hubertus’ Augen blitzen triumphierend, als er sich zum Kastell wandte. Godecke Michels starrte ihn zunächst mit unbewegtem Gesicht an. Dann nickte er anerkennend. Magister Wigbold sah mit einem Mal sehr nachdenklich drein. Da zerriss ein lauter Schrei die Luft. Er kam vom Ausguck im Krähennest. „Handelsschiff voraus!“


Leseprobe 4:

9. Oktober 1391, Gefängnis am Starzenbach in Geisenfeld

Der Oberaufseher des Gefängnisses, Laurentius Glöser, der in seiner Amtsstube auf einem Hocker saß, musterte Agnes misstrauisch. „Den Dieb und Betrüger, den wir gestern erst auf Befehl der ehrwürdigen Mutter Äbtissin eingesperrt haben, willst du also besuchen? Er steht unter strenger Bewachung, damit er sich nicht durch dunkle Magie befreien kann, bevor die Verhandlung gegen ihn eröffnet wird. Schließlich ist er ein Gaukler.“
Agnes richtete ihre verweinten Augen auf den Mann. „Ich flehe Euch an, bitte lasst mich zu ihm! Er ist mein Gemahl, Vater unseres Sohnes und gänzlich unschuldig. Alle Behauptungen sind unwahr! Er soll seiner Ehre beraubt werden!“, schluchzte sie. Glöser, ein stämmiger Mann mit vernarbtem Gesicht, schob seinen Helm zurück, kratzte sich am Kopf und knurrte etwas Unverständliches. Agnes griff in die Falten ihres Rocks und zog zwei kleine Münzen hervor. Der Mann hielt die Hand auf. Agnes ließ die Münzen hineinfallen und sogleich waren sie in der Gürteltasche des Oberaufsehers verschwunden. „Gut, aber nur für eine halbe Stunde. Und zwei Knechte werden zugegen sein.“ „Habt Dank, habt Dank“, stammelte Agnes und faltete die Hände vor ihrer Brust. Glösers begehrlichen Blick auf ihre Oberweite versuchte sie, nicht wahrzunehmen. Dieser wiederum rief nach einem Knecht, der vor dem Gefängnis herumlungerte und trug ihm auf, die junge Frau zu den Zellen zu begleiten.


Der Knecht führte Agnes durch eine Seitentür der Amtsstube. Dort verlief ein schmaler Gang. Rechter Hand war eine Kammer mit einer Holztüre und schweren Beschlägen. Danach schwenkte der Gang nach rechts und führte zu vier Zellen, deren Boden mit Stroh bedeckt und die mit dicken Gitterstäben und in die Wand eingelassenen eisernen Ringen versehen waren. In jeder Zelle diente ein hölzerner Eimer als Abort. Am Ende des Ganges saß auf einer alten Truhe schon ein anderer Knecht, der einen langen Spieß in der Hand hielt. Agnes kannte ihn. Es war Albert Grimm, ein ehemaliger Angehöriger der Marktwache. Dort hatte man ihn entlassen, weil er als einfältig galt. Nun tat er seinen Dienst im Gefängnis. Mit dem Spieß konnte er jede der rückwärtigen Ecken der Zellen erreichen, die dort errichtet waren. Er hob den Kopf, als er die Neuankömmlinge sah.


Nur zwei der Zellen waren belegt. Die ersten beiden Zellen waren leer. In der dritten Zelle erblickte Agnes eine weibliche Gestalt mit zerzausten langen blonden Haaren, die reglos mit dem Rücken zu ihr auf einem mit Stroh gefüllten Sack lag. Ihr blassblaues Kleid war verschmutzt und wies manche Risse auf. In der hintersten Zelle saß ein junger Mann mit gesenktem Kopf auf dem Boden. Er war mit beiden Händen in Ketten geschlagen, die in der dicken Wand eingemauert waren. Agnes brach das Herz, als sie ihren Ehemann in der Zelle sitzen sah. „Alberto!“, rief sie mit zitternder Stimme. Alberto merkte auf. Als er Agnes und den kleinen Georg erblickte, erhob er sich rasch. Sein Gesicht, das angeschwollen war und blaue Flecken hatte, erstrahlte voller Freude. „Agnes, mein treues Weib!“ rief er. Agnes sah, dass die Ketten so kurz waren, dass Alberto gerade aufstehen und zwei oder drei Schritte machen konnte. „Sie haben dich geschlagen!“, sagte Agnes tonlos.
Dann fuhr sie zu dem Knecht herum, der sie hierher begleitet hatte. „Wie konntet Ihr es wagen? Er ist unschuldig!“ Der Knecht sah sie abschätzig an. „Schweig, Weib!“, sagte er ruhig. „Er wollte heute Nacht fliehen und als wir ihn wieder einfingen, tobte er. Es blieb uns nichts anderes übrig.“ Er schaute Albert Grimm an. Dieser versuchte, ein Grinsen zu verbergen. „Genau so hat es sich zugetragen“, bestätigte er. Agnes warf Alberto einen Blick zu. Dieser schüttelte resigniert den Kopf, ohne etwas zu sagen. Angst stieg in Agnes auf. „Was… was wird dir vorgeworfen, Alberto?“, fragte sie leise. „Als die Büttel dich gestern mitnahmen, sagten sie nicht, welche Verbrechen du begangen haben sollst. „Ich soll ehrwürdige Bürger beim Holzverkauf betrogen haben“, antwortete Alberto tonlos. „Sie behaupten, ich habe sie im Wald mit meiner Axt bedroht. Auch soll ich die Brauerstochter Walburga Heindlin verzaubert haben, auf dass sie mir beigewohnt hat. Sie liegt in der Zelle nebenan.“
„Das ist infam!“ rief Agnes schluchzend aus. Alberto hob resigniert die Schultern. „Es wurden auf dem Kleinen Marktplatz, vor der Klosterkirche und auf dem Großen Marktplatz Schriften gefunden, die den Gefangenen dieser Verbrechen bezichtigen“, sagte Albert Grimm. Er stand auf und richtete die Waffe drohend auf Alberto. „Auch die ehrwürdige Mutter Äbtissin hat ein solches Schreiben erhalten, wie man hört. Ein halbes Dutzend Zeugen bestätigt, dass die Anschuldigungen wahr sind. Morgen schon wird der Probstrichter über ihn und das Weib richten. Und es besteht kein Zweifel, dass er den Betrüger und Zauberer wie auch die leichtfertige Brauerstochter verurteilt. Der Carnifex, der in ein paar Tagen in Geisenfeld erwartet wird, hat einen guten Einstand!“


Er lachte laut auf. Der andere Knecht fiel ein. Der Carnifex! Agnes wurde vor Schreck leichenblass. Es stimmte also, dass ein Scharfrichter nach Geisenfeld kommen sollte! Schon im Herbst letzten Jahres war das Gerücht im Markt umhergegangen, dass die Oberin des Klosters an höherer Stelle darum ersucht hatte, dem Konvent die Blutgerichtsbarkeit zu übertragen. Da dies nach Menschengedenken noch niemals zuvor geschehen war, hatten nur wenige diesem Gerücht Glauben geschenkt. Doch schien es nun, als sei dem Wunsch entsprochen worden. Und Alberto würde der Erste sein, an dem der Scharfrichter sein blutiges Handwerk ausüben sollte! Agnes wurde schwindelig. Sie schwankte. Nebel verschleierte ihren Blick. Dann verließen sie ihre Kräfte und sie sank ohnmächtig auf den kalten Boden. Den Entsetzensruf von Alberto hörte sie nicht mehr.


***

Band VI: (Titel folgt)


Leseprobe:


Prolog:
30. November 1291, Burg Buchenau, Sitz der Herren von Buchenau
„Verflucht sollst du sein! Auf ewig verflucht! Du Teufelin im Engelskleid! Nach deinem Tod sollst du im Grab keine Ruhe finden. Du wirst in deinem weißen Gewand auf ewig dort umgehen, wo mein Hof steht!“ Ein Faustschlag an die Schläfe des Mannes beendete seinen Fluch. Er fiel zur Seite und blieb reglos auf dem kalten, gemauerten Boden des Vorratskellers liegen, der seit einigen Wochen als Kerker zweckentfremdet wurde. Der kräftige Knecht, der den Mann zum Verstummen gebracht hatte, sah seine Herrin fragend an. Er versah eigentlich seine Dienste als Schmied der Burg, doch nahm er auch andere Aufgaben wahr, wenn es befohlen wurde. Elisabeth von Buchenau war bei den Worten des Mannes zusammengefahren; ihr Atem hatte gestockt. Sie schluckte, holte tief Luft und machte eine fahrige und unbestimmte Geste. Der Schmied zuckte ratlos die Achseln.
Mit aschfahlem Gesicht wandte sich die Burgherrin ab, raffte ihr Kleid und eilte die Stufen hinauf, die vom Keller der Burg zurück ans Tageslicht führten. Tageslicht? Es war ein grauer, trüber Morgen, der kaum verdiente, dass man ihn später Tag nennen sollte. Dichte, dunkle Wolken hingen über dem Land und ein leichter, aber eisiger Wind ließ jeden Knecht und jede Magd frösteln, die sich im Burghof aufhielten.
Elisabeth von Buchenau hatte dafür keinen Blick. Blindlings hastete sie über den gepflasterten, kalten Innenhof der Burg zum Wohnturm, wo sich an oberster Stelle ihr Gemach befand. Das Gesinde, an dem sie wortlos vorbeistürmte, wagte nicht, sie anzuschauen oder gar das Wort an sie zu richten. Zu gefürchtet war sie als strenge und mitunter boshafte Herrin, unter deren Launen die Bediensteten litten. Und sie war noch jung, keine fünfundzwanzig Jahre alt und mit ihren langen, gelockten, blonden Haaren und der schlanken Gestalt von engelsgleichem Äußeren. Doch hinter dem anmutigen, unschuldig wirkenden Antlitz verbarg sich eine habgierige und kalte Person.
Ihr Gatte, Walther von Buchenau, war ein willensschwacher, aber überaus reicher Mann und Elisabeth, die die Tochter eines Ritters von niederem Stand war, hatte von dem Moment an, als er ihr vorgestellt wurde, alles darauf angelegt, den Mann zu ehelichen.
Schon nach kurzer Zeit war es ihr gelungen, den schüchternen Edelmann zu verführen und ihn sich hörig zu machen. Die Heirat hatte vor drei Jahren stattgefunden. Doch bislang hatte die junge Herrin ihrem Gemahl noch keinen Erben geschenkt.
Schon bald nach der prächtigen Hochzeit war Walther von Buchenau mit seinem jungen schönen Weib auf einer Reise nach Hersfeld durch eine lichtumflutete Senke inmitten eines Waldes geritten, die den Namen „Grüne Delle“ trug. Dabei passierten sie einen hübschen und über die Maßen gepflegten, einsam gelegenen Hof eines Bauern, der sogleich die Aufmerksamkeit Elisabeths erregt hatte. Das Anwesen mit dem solide gebauten Haupthaus, der großen Scheune, den ansehnlichen Ställen und dem liebevoll gepflegten Garten gefiel ihr so gut, dass sie noch im selben Moment still und heimlich den Entschluss fasste, es sich anzueignen. Und während des Aufenthalts in Hersfeld und auch die Wochen danach war sie durchweg damit beschäftigt, darüber nachzusinnen, wie sie das Gut in ihre Hände bekommen konnte.
Zunächst hatte sie dem Bauern ein Kaufangebot gemacht. Dieser aber, ein selbstbewusster Mann, der den Hof schon seit vielen Dutzend Jahren im Familienbesitz wusste, dachte wie auch sein Weib gar nicht daran, zu verkaufen.
Als Elisabeth voller Zorn einsehen musste, dass ihre Offerten ergebnislos blieben, war sie darauf verfallen, die Eheleute zu drangsalieren. Sie ließ verschiedenste Gerüchte über moralische Verderbtheit der beiden in Umlauf setzen, zweifelte öffentlich ihren Gottesglauben an, gab an, sie würden die Heiligen Messen schwänzen und ließ den Bauern als Betrüger verleumden. Anfangs ertrugen die Eheleute dies stoisch und der Mann wie auch sein Weib durchstanden so manche Verhandlung vor dem Buchenauer Gericht.
Als Walther von Buchenau zu einem Feldzug gerufen worden war, der mehrere Monate dauern würde, gelang es seiner Gattin schließlich, den Streit mit dem Bauern unter Lügen und Meineiden sowie gekauften Zeugen so verdreht vor das Reichskammergericht von Wetzlar zu bringen, dass es zugunsten von Elisabeth von Buchenau entschied und dem Bauern, dessen Weib mittlerweile vor Gram gestorben war, den Hof absprach. Noch am selben Tag ließ die Buchenauerin den Mann mit bewaffneten Knechten von seinem Hof vertreiben. Er aber hatte sich zur Wehr gesetzt, wüste Beschimpfungen ausgerufen und kundgetan, den Hof wieder erlangen zu wollen. Dies berichteten die Knechte der Burgherrin sogleich und Elisabeth von Buchenau zögerte nicht lange. Sie ließ den Heimatlosen fangen und in den Keller von Buchenau werfen, wo er seitdem im Angesicht der reichhaltigen Essensvorräte angekettet lag.
Dass ihr Gemahl weder über die Hohe noch die Niedere Gerichtsbarkeit verfügte, hatte Elisabeth herzlich wenig gekümmert. Ein Bauer, für den niemand wagen würde, einzustehen, war für sie ein leichtes Spiel. Zudem war sie der festen Überzeugung, dass Regeln und Verbote nur für Menschen unterhalb ihres Standes Geltung hatten.
Schon seit mehreren Wochen hatte der Bauer nun im Keller geschmachtet, doch seinen Widerstand hatten weder Peitschenhiebe noch mehrfaches Hungern brechen können. Auch als sie den Unglücklichen krummschließen ließ, so dass er vor Schmerzen schrie, beharrte er darauf, alles dafür zu tun, den Hof wieder zu erlangen.
Vor bald zwei Wochen war sie zuletzt im Keller gewesen. Der Bauer hatte sie aus stumpfen Augen angeblickt. Mit hochmütiger Miene hatte sie ihm angeboten, wenn er sie als seine Herrin anerkennen würde und den Anspruch auf den Hof aufgäbe, käme er noch am selben Tag frei, solle ordentliche Kleidung erhalten und reichlich Proviant aus der Burgküche mitnehmen können. Doch der Mann hatte lediglich wortlos vor ihr ausgespuckt.
Daraufhin hatte sie angeordnet, ihn von Stund an ohne Nahrung zu lassen, auf dass er mit den Essenvorräten vor Augen „verkommen solle“. Doch als sie die Stufen zu ihrem Gemach im Wohnturm hinaufgestiegen war, da war eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Wut über die Unbeugsamkeit des Mannes in ihr aufgestiegen. In den folgenden Nächten hatte sie kaum Schlaf gefunden und war darob noch böser und launischer ihrem Gesinde gegenüber gewesen.
Heute Morgen nun war ihr von einem fürstlichen Boten die Nachricht übermittelt worden, dass ihr Gemahl, Walther von Buchenau, vom siegreichen Feldzug heimkehren werde. Er werde schon heute oder spätestens morgen auf der Burg eintreffen.
Elisabeth hatte sich deshalb von ihrer Zofe ihr schönstes Kleid, das in reinem, leuchtendem Weiß gehalten war, anlegen lassen. Wie eine Fee, so wollte sie ihrem Ehemann bei seiner Heimkehr gegenübertreten. Eine Fee, die willig war, ihm im Schlafgemach die höchsten Genüsse zu bereiten und endlich den ersehnten Erben zu schenken.
Doch dann war ihr unvermittelt der Gefangene wieder in den Sinn gekommen. Fieberhaft hatte sie überlegt, wie sie sich dieses Problems entledigen könnte. Schließlich war sie zu dem Schluss gekommen, ihm neben Nahrung, Kleidung und freiem Geleit auch einen Beutel mit Münzen anzubieten. Dies würde er kaum ablehnen können.
Gleich danach war sie in ihrem feenhaften Kleid gemessenen Schrittes zum Vorratskeller hinabgestiegen. Sie hatte erwartet, einen kraftlosen, beinahe verhungerten und gebrochenen Mann vorzufinden. Und in der Tat war der Bauer durch den Entzug von Nahrung und Wasser mehr tot als lebendig. Als sie aber in ihrem prächtigen Kleid vor ihm stand, war sie nicht dazu gekommen, das Wort an ihn zu richten. Mit dunklen Augen, die tief in den Höhlen lagen, hatte er sie nur kurz angesehen und sogleich mit hasserfüllten Worten, die ihr durch Mark und Bein drangen, den Fluch ausgesprochen.
Nun stand Elisabeth von Buchenau schwer atmend in ihrem Gemach. Sie hatte alle Dienstboten barsch davongeschickt. Tiefes Grauen ob des Fluchs durchfuhr sie und ließ sie am ganzen Körper zittern und frieren. Sie bemühte sich, die Worte des Bauern als bedeutungsloses Stammeln abzutun, doch gelang ihr dies nicht. Sie trat an das Kaminfeuer, aber die lodernden Flammen spendeten ihr heute keine Wärme.
Verzweifelt ballte die Burgherrin die Fäuste. Nicht nur der Fluch ängstigte sie. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihr Gemahl nach Hause kam. Wenn er erfuhr, wie grausam sie den Gefangenen hatte peinigen lassen, dann würde er sie trotz seiner Schwachheit zur Rechenschaft ziehen. Mit Schrecken dachte sie daran, dass er sie deswegen sogar verstoßen könnte.
Schließlich fasste sie einen Entschluss und rief nach einem der Knechte. Der Mann trat mit furchtsamer Miene und mehrfachen Verbeugungen ein. Elisabeth befahl ihm, den Bauern sogleich freizulassen, ihm frische Kleider, Wasser, reichlich Nahrung und drei Silberpfennige zu geben und ihn danach so rasch wie möglich fortzuschaffen. Als der Knecht gegangen war, atmete sie erleichtert auf. `Der Fluch wird mich nicht treffen, wenn der Mann wieder in Freiheit ist´, dachte sie. `Mein Gemahl wird es mir nachsehen, denn der Hof bleibt im Besitz der Buchenauer.´
In ihrer Erleichterung ließ sie sich einen Krug mit rotem Wein bringen. Als die Zofe den tönernen Becher eingeschenkt hatte, hob Elisabeth das Gefäß an die Lippen. Im selben Moment trat der Knecht in ihr Gemach. „Verzeiht, Herrin, doch der Gefangene wurde soeben tot im Kerker aufgefunden. Der… der Tote hat ein vor Wut verzerrtes Antlitz und seine Fäuste sind so fest geballt, dass niemand sie lösen kann…“
Ein lauter Entsetzensschrei entfuhr Elisabeths Lippen. Der Becher fiel aus ihrer Hand und zerbrach auf dem gemauerten Boden. Der Wein spritzte auf und befleckte das weiße Kleid. Gurgelnd, mit verzerrtem, kalkweißem Gesicht und weit aufgerissenen Augen griff sich die Burgherrin an die Kehle, als bekäme sie keine Luft mehr. Rotwein, mit Speichel vermischt, tropfte von ihrem Kinn und besudelte das festliche Gewand.
Ungläubig sahen die Zofe und der Knecht, wie Elisabeth von Buchenau zu Boden sank. Ein letztes Keuchen, dann lag sie regungslos auf dem Rücken. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten blicklos ins Leere.
Obwohl alle Fenster verschlossen waren, fegte unerwartet ein eiskalter Wind durch die Kemenate und wirbelte feinen Staub auf. Ein unheimliches, hämisches Kichern erfüllte im selben Moment die Kammer, so dass Knecht und Zofe erschrocken zusammenzuckten. Mit entsetzter Miene verfolgten sie, wie sich der Wirbelwind, so schien es, über der toten Elisabeth von Buchenau sammelte. Mit lautem Knall flog ein Fenster auf, als habe eine unsichtbare Kraft es von innen geöffnet. Die Zofe schrie angstvoll auf.
Von Grauen geschüttelt, sahen sie und der Knecht, wie sich der Leichnam der Burgherrin vom Boden erhob, scheinbar mühelos zu schweben begann und sich dabei unablässig um sich selbst drehte und auf das geöffnete Fenster hinzubewegte. Als die tote Burgherrin dort hinausgezogen wurde, war ein schmatzendes Geräusch zu vernehmen.
Die Zofe konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Sie verdrehte die Augen und brach ohnmächtig zusammen. Der Knecht aber überwand seine Furcht und stürzte an das Fenster. Fassungslos sah er, wie der sich drehende Leichnam vom Wind rasch davongetragen wurde, bis er in den tiefhängenden grauen Wolken verschwunden war.
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